Blog 17: Soziale Krisen der deutschen Geschichte, Der Erste Weltkrieg

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Einzelbild aus dem Film Das Vermächtnis

Sozial-politischer Hintergrund

Laut Pulzer, hatten das schnelle Wachstum der deutschen Wirtschaft, die Konkurrenz des Imperiums mit anderen europäischen Staaten um Kolonien, die Entwicklung eines aggressiven Programms zur militärischen Expansion, sowie eine Reihe diplomatischer Krisen im Jahr 1914 zu einer angespannten internationalen Atmosphäre geführt. Als Deutschland in einen Krieg zwischen Österreich, Ungarn und Russland verwickelt wurde, eskalierte der anfänglich regionale Konflikt aufgrund eines komplizierten Bündnissystems zu einem Weltkrieg. Pulzer beschreibt, wie der Krieg von vielen als Gelegenheit gesehen wurde, ihre Träume und Erwartungen zu verwirklichen. Diese Begeisterung beruhte in Deutschland auch auf dem Verständnis, dass es sich um einen Verteidigungskrieg handelte, der schnell zum Sieg führen würde (Pulzer 1997). Der Historiker Hans Maier erläutert, wie weit die Realität des Ersten Weltkriegs von dieser Vision entfernt war, da es sich dabei, aufgrund der rasanten Entwicklung von Technologie und Verkehr um einen industrialisierten und totalen Krieg handelte, der nicht nur die Armeen, sondern auch die gesamte Bevölkerung betraf und vier Jahre dauerte (Maier, 2001). Laut Reinhardt beliefen sich die deutschen Opfer auf 1.600 000 Tote, über 4 Millionen Verwundete und über 200 000 Vermisste. Weitere 250 000 Todesfälle waren auf Unterernährung in der unmittelbaren Folge des Krieges zurückzuführen (Reinhardt,1950). Pulzer beschreibt die Demütigung und die kollektive Empörung, die folgte, als der Friedensvertrag veröffentlicht wurde. Dieser beinhaltete erhebliche Reparationszahlungen, den Verlust aller Kolonien und Gebiete wie Elsass-Lothringen, die Reduzierung der deutschen Armee auf 100.000 Mann, die Besetzung des Rheinlandes durch alliierte Truppen für 15 Jahre, die Übergabe der deutschen Schlachtflotte und das Verbot der österreichischen Republik, sich gegen den Willen ihrer Bevölkerung dem Reich anzuschließen. Das Kriegsende war auch eine Zeit intensiver sozialer Unruhen gewesen, zu denen revolutionäre Aufstände gehörten. Als der deutschen Flotte befohlen wurde, in einer letzten Schlacht ihre Ehre zurückzugewinnen, brach in Kiel eine Meuterei aus, die sich von den Marinesoldaten über die Arbeiter der Werft bis zu den Gewerkschaftsvertretern ausbreitete und den Geist der Revolution in jede größere Stadt sendete mit der Absicht, eine sozialistische Republik zu gründen.

Einzelbild aus dem Archivmaterial Aufmarsch des Rotfrontkämpferbundes

Pulzer erklärt, dass Präsident Wilson auf der Demokratisierung Deutschlands als Voraussetzung für Friedensverhandlungen bestand. Die öffentliche Ordnung musste daher um jeden Preis wiederhergestellt werden. Zu diesem Zweck wurde ein geheimer Bund mit der Armee geschlossen und als im Januar 1919 eine weitere Revolution in Berlin ausbrach, wurde diese von den regulären Offizieren niedergeschlagen, die die Anführer der Revolution, Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg gefangen nahmen und ermordeten. Eine im Februar 1919 gegründete kommunistische Regierung in München wurde ebenfalls von der Armee durch ein mehrtägiges Massaker beendet. Pulzer berichtet, wie die Kriegserfahrung und die deutsche Niederlage mit ihren politischen, wirtschaftlichen und sozialen Folgen zu einem deutlichen Anstieg der Spannungen, sozialen Unruhen und gewalttätigen Tendenzen führten, die mit dem Anstieg der Inflation zunahmen (Pulzer, 1997). Mosse beschreibt, wie die völkische Ideologie, die sich unter der deutschen Mittelschicht im Laufe des 19. Jahrhunderts entwickelt hatte, nach Ende des Ersten Weltkriegs und der Gründung der Weimarer Republik an Bedeutung gewann. Diese verzerrte Sichtweise begann sich in allen Teilen der Gesellschaft zu verbreiten und gewann eine politische Basis, die von Mehrheiten unterstützt wurde (Mosse 1964).

Titelblatt der Zeitschrift Deutschlands Erneuerung

Kultur-soziologischer Hintergrund

Während sich im 19. Jahrhundert künstlerische Konventionen etabliert hatten, die von der deutschen Bourgeoisie initiiert und institutionalisiert worden waren, um ein Gefühl der nationalen Identität zu fördern, entwickelten sich dazu bald alternative Gegenbewegungen in der Kunst. Der Expressionismus war eine dieser Bewegungen und umfasste alle kulturellen Medien wie Literatur, Bildende Kunst, Theater, Musik, Tanz, Film usw. (Lehman, 1997). Der Kulturkritiker Douglas Kellner sieht den Expressionismus als einen Teil einer Reihe antikapitalistischer Avantgarde-Revolten in Europa zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Laut Kellner förderten die Expressionisten einen Fokus, der auf der subjektiven Erfahrung und dem Streben nach sozialer Transformation lag, während sie versuchten, die etablierten Normen, Werte, Institutionen und etablierten künstlerischen Konventionen anzugreifen.

Potsdamer Platz, E. L. Kirchner, Oel auf Leinwand 1914

Kellner betont, dass der Expressionismus in Deutschland den größten Einfluss hatte, da die Industrialisierung und die Ausbreitung des Kapitalismus besonders schnell und ungleichmäßig waren, was zu einer sozialen Atmosphäre führte, die von Spannungen geprägt war. Kellner beschreibt, wie Expressionisten die Moderne kritisch konfrontierten, die Wirkung der neuen Transportmittel und des städtischen Lebens aufzeigten und dabei die sich entwickelnden Massenmedien, wie Film miteinbezogen, um das Tempo und die vielschichtige Komplexität der modernen Lebenserfahrung widerzuspiegeln. Während die Mittelschicht das Narrativ der idealisierten Nation und ihrer mythischen Vergangenheit etablierten, widersetzten sich die Expressionisten dieser Idee und dekonstruierten sie, um den Krisen der industriellen Realität zu begegnen zu können. Dabei stellten sie die etablierten Normen der bürgerlichen Gesellschaft mit ihren konservativen, militaristischen und nationalistischen Tendenzen in Frage (Kellner 1983).

Kriegskrüppel, Otto Dix, 1920

Das kulturelle Beispiel, Das Volk, ein Holzschnitt von Käthe Kollwitz, der sich mit dem Erlebnis des Ersten Weltkrieges auseinandersetzte, kann dem frühen Expressionismus zugerechnet werden. Die Kunsthistorikerin Elizabeth Prelinger erklärt, dass sich der Einfluss der expressionistischen Bewegung in Kollwitz Arbeit auf den Kriegszyklus und auf politische Plakate beschränkt, bei denen es die Intensität des emotionalen Inhaltes ist, der diesen Teil ihrer Arbeit mit dem frühen Expressionismus verbindet. Auch Kollwitz Engagement für soziale und politische Themen war ein Anliegen, das sie mit der zweiten Generation der Expressionisten teilte.

Käthe Kollwitz konnte sich der Starrheit des preußischen öffentlichen Schulsystems entziehen. Sie wurde privat erzogen und war von einem unkonventionellen familiären Hintergrund beeinflusst, der sowohl von einer religiösen als auch einer sozialistischen Haltung geprägt war. Kollwitz entschloss sich schon in jungen Jahren, Künstlerin zu werden und wurde schnell von der sozialen Realität der Arbeiterklasse angezogen und glaubte an eine Kunst, die eine soziale Berufung hatte. Aufgrund der politischen Kontroversen ihrer Zeit wurde sie trotz ihrer ausgesprochenen unpolitischen Position als Sozialistin angesehen. Der Holzschnitt Das Volk ist Teil eines Kriegszyklus, der im Februar 1921 abgeschlossen und 1924 herausgegeben wurde. Kollwitz sprach das Thema aus ihrer persönlichen Perspektive an, nachdem 1914 ihr jüngster Sohn Peter an der Front gefallen war. Während Kollwitz zunächst die Begeisterung ihres Sohnes, sich freiwillig zu melden, geteilt hatte, änderte sich ihre Haltung dem Krieg gegenüber mit dieser Erfahrung bis hin zu einer ausgesprochenen und engagierten Opposition, die sich im Zyklus zeigt. Inspiriert von den Arbeiten des Bildhauers Ernst Barlach hatte sich Kollwitz dem Holzschnitt als Medium für diese Serie zugewandt und eine Reihe expressionistischer Effekte wie Vereinfachung und Verzerrung übernommen, um eine direkte Kommunikation mit dem Betrachter zu ermöglichen.

Was Kollwitz von anderen expressionistischen Künstlern unterschied, war ihre Affinität zu der naturalistischen Tradition, aus der sie hervorging, und die Tatsache, dass sie als Mitglied der Sezession und Professorin an der Preußischen Akademie der bildenden Künste in das Establishment integriert war. Prelinger hebt hervor, dass die meisten Avantgarde-Künstler die Verbindung zur allgemeinen Bevölkerung verloren hatten, während es eines der Hauptanliegen von Kollwitz war, für jedermann zugänglich zu sein. Kollwitz war anders als andere expressionistischen Künstler, da sie vollständig in ihr soziales Umfeld integriert war, und sie wurde von der Öffentlichkeit akzeptiert, weil ihre Arbeiten gut in die Art sozial orientierter Bilder passten, die von Künstlern der vorherigen Generation wie Menzel und Liebermann gefördert worden waren.

Selbstbildnis, Kaethe Kollwitz, Holzschnitt 1924

Während sie ihren eigenen figurativen Stil verfolgte, war ihre Auseinandersetzung mit sozial inspirierten Themen sowohl auf ihre Erziehung als auch auf ihre späteren Lebenserfahrungen als Frau eines Arztes der Arbeiterklasse in Berlin zurückzuführen (Prelinger, 1992). Kollwitz war wie ihre Zeitgenossen nicht nur sensibel für die Spannungen ihrer Zeit, sondern fühlte sich auch oft emotional von dem betroffen, was sie als „politisches Elend“ bezeichnete. Sie spricht in ihren Tagebüchern von düsteren Stimmungen und Depressionen, erkennt ähnliche Probleme bei ihren Kollegen und beschreibt eine soziale und politische Atmosphäre, die zunehmend bedrückend und verstörend war (Frank, 1982).

Der Holzschnitt Das Volk ist eine der wenigen deutschen Kulturproduktionen, die sich mit den Erfahrungen des Ersten Weltkriegs befassen. Weitere Werke, die sich direkt auf den Krieg beziehen, sind der autobiografische Bericht von Rainer Maria Remarque Im Westen nichts Neues (1929) und die Arbeiten expressionistischer Maler wie George Grosz, Otto Dix und Max Beckmann, die einen satirischen Ansatz verfolgten. Expressionistische Filme reflektierten indirekt die Kriegserfahrung wie Der müde Tod von Fritz Lang (1921), der sich auf die Erfahrung von Verlust, Trauer und Schicksal konzentriert; Der letzte Mann von Murnau (1924), der sich mit dem Gefühl der Schande und dem Verlust des sozialen Status befasst; und Hamlet von Gade und Schall (1921), der die Erfahrung der Desillusionierung in Bezug auf Zivilisation und Fortschritt zum Ausdruck bringt.

Analyse des Holzschnittes Das Volk von Käthe Kollwitz

Der Holzschnitt Das Volk ist Teil einer Reihe von Holzschnitten von Käthe Kollwitz unter dem Titel Krieg. Die Anwendung einer narrativen Analyse auf den Holzschnitt ist begrenzt, da kulturelle Produktionen der Bildenden Kunst nicht zeitbasiert sind. Da aber der Holzschnitt einen zeitlichen Moment einfängt und damit einen gewissen narrativen Charakter hat, kann die Methodik, die auf frühere kulturelle Beispiele angewendet wurde, auch hier eingeschränkt verwendet werden.

Worum es in der Erzählung des Holzschnittes geht, wird durch den Titel Das Volk deutlich. Als Teil des Zyklus Krieg wird impliziert, dass Krieg auch Teil der Erzählung ist und durch seine Wirkung auf das ‚Volk‘ indirekt in der Darstellung auftritt. Laut Ricoeur beschäftigen sich narrative Texte mit dem zeitlichen Charakter menschlicher Erfahrung und beschreiben eine Veränderung der Situation. Die Auswirkung des Krieges auf das ‚Volk‘, kann als diese Veränderung angesehen werden. Wir wissen nicht, wie die Situation des ‚Volkes’ vor dieser Auswirkung war, die Reaktion der abgebildeten Personen lässt jedoch schließen, dass es sich hier um eine Veränderung zum Schlechten handelt. Laut Toolan können Charakterzüge durch Adjektive oder aus Handlungen abgeleitet werden, so dass Charaktere entweder als ‚Opfer‘ oder als ‚Täter‘ identifiziert werden können.

Das Volk, K. Kollwitz 1922

In diesem Fall wird der Charakter der Individuen, aus denen das Kollektiv des Volkes in der Darstellung des Holzschnittes besteht, in ihrer Reaktion auf die Kriegserfahrung beschrieben, die sich in ihrer Haltung und im Ausdruck ihrer Gesichter zeigt. Wir können 7 Personen im Holzschnitt identifizieren, von denen 6 Erwachsene sind. Eine der schwarz gekleideten Erwachsenen, eine Frau in einem Umhang, befindet sich in der Mitte des Bildes. In der unteren Hälfte des Bildes befindet sich ein Kind, das teilweise von ihrem Umhang bedeckt ist. Die anderen Erwachsenen, die teilweise als Männer identifiziert werden können, umgeben die zentrale Figur, ihre Gesichter drängen sich in den oberen Teil des Bildes. Die Emotionen dieser anderen Erwachsenen, die durch Gesichtsausdruck und Körpersprache dargestellt werden, reichen von Schmerz und Qual bis zu Angst und Sorge und zeigen die Wirkung einer extremen, destruktiven Erfahrung. Da sie in ihrer Reaktion zu einer Erfahrung dargestellt sind, in diesem Fall zu den lebensbedrohenden und zerstörenden Aktionen des Krieges, können sie eindeutig als ‚Opfer‘ identifiziert werden. Das Kind, das sich allein in der unteren Bildhälfte befindet und teilweise vom Umhang der Frau bedeckt ist, erscheint verängstigt und verletzlich und kann als ‚potenzielles ‚Opfer‘ angesehen werden. Die Figur mit dem Umhang, die die Mutter des Kindes zu sein scheint, steht im Gegensatz zu den anderen erwachsenen Figuren. Um das Kind zu schützen, begegnet sie der destruktiven Erfahrung in der aktiveren Haltung einer defensiven Opposition und kann nicht als direktes ,Opfer‘ angesehen werden. Ihr aufrechter Körper, ihre steife Hand und ihr maskenhaftes Gesicht mit einem Ausdruck, der trotzig verhärtet ist, stehen im Gegensatz zu den anderen Erwachsenen, deren Gesichter, Hände und Haltung in Qualen verzerrt sind. Um das emotionale Chaos dieser Figuren zum Ausdruck zu bringen, wurde das Holz so geschnitten, dass die weißen Schnittlinien der Oberfläche als Kurven und Zickzacklinien erscheinen, die multidirektional sind und unzusammenhängend und verzerrt erscheinen. Wellen und Zickzacklinien in den Ecken des Hintergrunds setzen diese Bewegung fort. Die Figur im Zentrum dagegen zeichnet sich durch gerade, leicht geschwungene und meist symmetrische Linien auf Gesicht und Händen aus, die klar geordnet sind und ihr einen entschlossenen Anschein geben, während sie inmitten emotionaler Turbulenzen steht. Die Kinderfigur fällt durch die runden Formen ihrer Augen und die geschwungenen regelmäßigen Linien ihrer lockigen Haare auf, sowie durch ihrer kleine Nase. Das Kind wirkt dadurch unschuldig und spricht den Betrachter emotional an. Das hier dargestellte Kollektiv der ‚Menschen‘ wird dabei entsprechend ihrer unterschiedlichen Reaktion auf die Kriegserfahrung, ausgedrückt durch die Qualität, Orientierung und Komposition der Schnittlinien, in drei Gruppen eingeteilt. Die meist männlichen Erwachsenen am oberen Bildrand scheinen in diesem Zusammenhang zu denjenigen zu zählen, die direkt vom Krieg betroffen sind und unter Schmerzen, Angst und Qualen leiden, die Frau im Zentrum, als indirekt betroffene, defensiv und beschützende, das Kind als noch unschuldig und unversehrt, aber in Gefahr, ein ‚Opfer‘ zu werden. Dieser Eindruck einer Aufteilung in 3 Gruppen wird durch die Positionierung der Personen innerhalb des Bildes weiter verstärkt. Die Männer befinden sich in der oberen Bildhälfte im Hintergrund und einige sind nur teilweise sichtbar, was den Eindruck eines Platzmangels erweckt, der sich bedrückend anfühlt. Die Frau mit dem Umhang befindet sich in der Mitte und füllt das Bild. Das Kind steht im Vordergrund und ist von der Hand der Mutter und ihrem Umhang umgeben, die beide von der Mitte in den Vordergrund kommen, um das Kind zu umgeben. Hintergrund, Mittelgrund und Vordergrund können so gedeutet werden, dass sie die zeitliche Abfolge darstellen, mit der der Krieg auf das Kollektiv wirkt, ein Effekt, der die Gruppe in Geschlecht und Altersgruppen unterteilt. Durch eine Kraft, die hinter dem Bild hervorzukommen scheint, sind die Männer zuerst und auf direkte Weise betroffen, die Frauen später und indirekt und die jüngere Generation zuletzt.

Der harte und entschlossene Ausdruck auf dem Gesicht der Frau mit dem Umhang, ihre zentrale, aufrechte und defensive Position im Bild, die große schwarze Oberfläche ihres schwarzen Umhangs, die nur durch das teilweise sichtbare Gesicht des Kindes unterbrochen wird, machen ihre Figur zum Blickfang des Holzschnittes. Es ist eine erstaunliche Erscheinung, die eine Botschaft zu tragen scheint. Als Werk einer Künstlerin, die selbst im Krieg einen Sohn verloren hat, kann sie als eine persönliche Botschaft von Kollwitz gelesen werden, die am Beispiel der Frau mit Umhang einen Standpunkt der aktiven Opposition angesichts des Krieges fordert, um zu schützen, was für das Kollektiv am wertvollsten ist, nämlich die nächste Generation. Die Art und Weise, wie das Bild gerahmt wird und einige der Gesichter in der oberen Hälfte abschneidet, lässt darauf schließen, dass nur ein kleines Segment eines viel größeren Bildes sichtbar ist, das sich sowohl zu beiden Seiten als auch nach oben erstreckt und deutet damit auf den großen Umfang des Kollektivs des ‚Volkes‘ hin. Wie bei anderen expressionistischen Holzschnitten ist die Darstellung stark reduziert. Durch diese Vereinfachung, bei der persönliche Details, die zur individuellen Identifizierung führen könnten, sowie jegliche Bezugnahme auf Ort oder Zeit weggelassen werden, erhält der Holzschnitt einen ikonischen Charakter. Er stellt dadurch eine Erfahrung dar, die allgemein ist und aufgrund ihrer Einfachheit von vielen gelesen und verstanden werden kann. Durch den starke Schwarz-Weiß-Kontrast, die Reduzierung der Mittel und die Intensität des Inhalts, der zum Ausdruck gebracht wird, wird der Betrachter auf eine Art und Weise angesprochen, die sowohl emotional als auch direkt ist.

Andere Teile des Kriegszyklus sind Die Eltern, Die Witwe (1 + 2), Die Mütter, Das Opfer und Die Freiwilligen.

Schlussfolgerung

Kollwitz wählte die Ausdrucksform des Expressionismus und eine unspezifische und vereinfachte figurative Darstellung, um allen Mitgliedern der Bevölkerung zu ermöglichen, sich mit dem Holzschnitt auseinanderzusetzen und sich darin selbst wieder zu erkennen. Die gewählten Mittel ermöglichten die direkte Kommunikation des hoch aufgeladenen emotionalen Inhalts, der die Gefühle von Angst, Verlust, Verletzung und Schmerz zum Ausdruck bringt und dazu aufruft sich gegen die Möglichkeit eines weiteren Krieges zu stellen, um weiteres Leid zu vermeiden und die kommende Generation zu schützen. Während der Holzschnitt das Potenzial hatte, ein weites Publikum mit seiner Botschaft und seinem emotionalen Ausdruck zu erreichen, scheint er nicht die erwartete Wirkung gehabt zu haben. Dafür gibt es einen wesentlichen und mindestens fünf weitere Gründe.

  1. Die Darstellung des Krieges, die Kollwitz zu etablieren hoffte, widersprach der nationalsozialistischen Propaganda. Diese Propaganda benutzte das Erlebnis des Ersten Weltkrieges, insbesondere die Gefühle von Scham und Demütigung, die durch die Niederlage und die Auflagen des Versailler Vertrages aufgekommen waren, um die Bevölkerung für einen Vergeltungskrieg zu mobilisieren. Kollwitz machte ihren Anspruch aus ihrer eigenen persönlichen Perspektive als Frau geltend, die sich an ein weibliches Publikum wandte und durch die Frau im Umhang in der Mitte ihres Holzschnittes zu einer Haltung des Widerstandes aufrief. Für ein weibliches Publikum hatten das menschliche Leid und der potenzielle Verlust der Kinder, die im Holzschnitt dargestellt sind, starke Konnotationen gehabt. Aus der Sicht der männlichen Bevölkerung jedoch, war es die Erfahrung von Scham und Demütigung, die als traumatisch erlebt wurde, da diese Erlebnisse die Identität der Männer und ihre Rolle in der Gesellschaft in Frage stellte. Der Verlust des persönlichen und des sozialen Selbstwertgefühles wurde dabei stärker bewertet als der potentielle Verlust des Lebens und das damit verbundene Leid. Die Kriegspropaganda der Nationalsozialisten, die diese emotionalen Bedürfnisse ansprach und eine Revision des Identitätsverlustes durch einen Vergeltungssieg versprach, konnte der damaligen männlichen Bevölkerung die Möglichkeit einer Neuidentifikation und einer emotionalen Katharsis bieten und behauptete erfolgreich, dass die Niederlage, nicht der Krieg selbst, das Trauma gewesen sei.
  2. Die Haltung des aktiven weiblichen Widerstandes, der durch den Holzschnitt gefordert wurde, kollidierte mit dem Bild der passiven und unterwürfigen Frau, das zu dieser Zeit durch das gesellschaftspolitische Klima gefördert wurde, in dem die Tendenz zu ‚Hypergendern‘ (Scheff 2007) zunahm.
  3. Die Kriegspropaganda der Nationalsozialisten wurde durch den Einsatz von Massenmedien weitaus besser verbreitet und war durch eine vielfältige und ständige Präsenz im öffentlichen Raum vertreten.
  4. Die Rezeption von Kollwitz’ Kunst war auch dadurch eingeschränkt, dass sie als sozialistische Künstlerin angesehen wurde.
  5. In einem Klima heftiger gesellschaftspolitischer Kontroversen und Auseinandersetzungen hatten die kulturellen Medien nur begrenzte Möglichkeiten Aufmerksamkeit zu erregen.
  6. Die Zunahme der Zensur verhinderte schließlich eine erfolgreiche Kommunikation durch die Holzschnitte.

Wie bereits in den vorigen Kapiteln erwähnt, war das Identitätsgefühl der deutschen Männer der bürgerlichen Mittelschicht durch die plötzliche Industrialisierung beeinträchtigt worden, die für viele zu einer Entfremdungserfahrung wurde und Gesellschaftsklassen hinterließ, die ideologisch und sozial destabilisierte waren. Dass dieses Gefühl der Entfremdung einer Erfahrung von Scham nahekam und bereits das Potenzial der Gewalt mit sich brachte, zeigt ein Zitat von Karl Marx, der 1843 in einem Brief an Ruge in Bezug auf den deutschen Nationalismus feststellte:

Scham ist eine Art Wut, die in sich gekehrt ist. Und wenn eine ganze Nation Scham erfahren würde, dann wäre das wie ein Löwe, der zum Sprung ansetzt.“

Marx 1843 in Scheff 2007: 2

Mosse beschreibt, wie die Niederlage des Ersten Weltkrieges das Ansehen der Nation weiter untergrub und wie dieser Prestigeverlust mit einer weiteren kollektiven Erfahrung von Scham verbunden war (Mosse, 1964). Das die nationalsozialistische Propaganda, die den Krieg zur Wiederherstellung der verlorenen Ehre forderte, viele ansprach, bestätigt Scheffs Theorie, dass unverarbeitete Erfahrungen von Scham und Demütigung die verborgene Komponente von Wut und Aggression sind und den Antagonismus gegenüber Außenstehenden und Randgruppen fördert (Scheff, 2006). Diese Tendenz trat in Form von Rassismus und Antisemitismus auf, die laut Mosse bis zu diesem Zeitpunkt bereits in der völkischen Ideologie integriert waren. Mosse erklärt, dass der Krieg eine entscheidende Periode in der Geschichte des völkischen Denkens darstellte, durch die sich diese Ideologie, die schon vor dem Krieg weit verbreitet war, plötzlich in ein politisch wirksames Denksystem verwandelte, das eine Massenbasis erlangte (Mosse, 1964). Der Versuch von Kollwitz, eine Warnung vor dem Krieg in Opposition zur nationalsozialistischen Kriegspropaganda zu etablieren, konnte nicht effektiv sein, da sie damit nicht die Erfahrung von Scham und Demütigung ansprach, die deutsche Männer in ihrem Identitätssinn mehr betroffen hatte als die kriegsbedingten Verluste und das damit verbundene körperliche und emotionale Leiden. Es war die völkische und später die nationalsozialistische Kriegspropaganda, die die deutschen Männer ansprach, die zu dieser Zeit eine größere gesellschaftspolitische Machtposition innehatten als die deutschen Frauen. In ihren Augen wurde Krieg zu einem Mittel, um die verlorene Ehre wiederherzustellen, und konnte nicht als negativ angesehen werden.

Nationalsozialistisches Propaganda Plakat

Bibliographie

Frank, V. (1982). Käthe Kollwitz, Bekenntnisse. Frankfurt am Main: Röderberg Verlag.

Kellner, D. (1983). Expressionism and Rebellion. In S. &. Bronner (Ed.), Passion and Rebellion: The Expressionist Heritage. London: Croom Helm Ltd.

Lenman, R. (1997). Artists and Society in Germany 1850-1914. Manchester: Manchester UP.

Maier, H. (2001). Potential for Violence in the Nineteenth Century: Technologyof War, Colonialism,’The People in Arms’. Totalitarian Movements and Political Religions, 2(1), 1-27.

Mosse, G. (1964). The Crisis of German Ideology. New York: Schoken Books.

Prelinger, E. (1992). Käthe Kollwitz. New Haven and London: Yale UP.

Pulzer, P. (1997). Germany 1870-1945. Oxford: Oxford UP.

Reinhardt, K. F. (1950). Germany: 2000 Years. California: The Bruce Publishing Company.

Ricoeur, P. (1984). Time and Narrative. Chicago: Chicago UP.

Scheff, T. (2006). Theory of Runaway Nationalism: Love of Country/Hatred of Others. Retrieved March 8, 2009, from http://www.soc.ucsb.edu/faculty/scheff

Scheff, T. (2007). War and Emotions: Hypermasculine Violence as a Social System. Retrieved March 8, 2009, from http://www.soc.ucsb.edu/faculty/scheff

Toolan, M. J. (1988). Narrative: A critical Linguistic Introduction. London: Routledge.

Abbildungen

Bild aus den Film Das Vermächtnis mit Archivfilmmaterial von Die Schlacht von Arras

Archivfilmmaterial von Aufmarsch des Rotfrontkämpferbundes

Titelblatt der Zeitschrift Deutschlands Erneuerung. Monatsschrift für das deutsche Volk, 1919   https://de.wikipedia.org/wiki/Völkische_Bewegung

Potsdamer Platz, Ernst Ludwig Kirchner, Oel auf Leinwand 1914

https://www.moma.org/audio/playlist/213/2792

Kriegskrüppel, Otto Dix, Oel aus Leinwand 1920

https://www.reddit.com/r/Art/comments/k8lm88/kriegskrüppel_war_cripples_otto_dix_oil_on_canvas/

Selbstbildnis, Kaethe Kollwitz, Holzschnitt 1924

https://www.kollwitz.de/selbstbildnis-kn-203

Propaganda Plakat

https://www.zeitklicks.de/fileadmin/user_upload/epochen/nationalsozialismus/propaganda/plakat.jpg