Blog 18: Institutionalisierte und industrialisierte Gewalt als Folge unverarbeiteter Krisen

Gekürtzte Audioversion:

 

,,Wer behauptet, Deutschland sei auf Hitlers Machtübernahme ,nicht vorbereitet’ gewesen, wehrt sich gegen Versuche, in diesem Ereignis den logischen Höhepunkt der deutschen Geschichte zu sehen”

Mosse, 1979

Wir haben in den vorangegangenen Blogs verfolgen können, wie sich eine Sichtweise, in der der sozialer Bezug zu anderen verloren gegangen war und in der die Legitimierung von Gewalt dadurch möglich wurde, die Geschichte Westeuropas grundlegend prägte.

Diese Sichtweise ermöglichte den Imperialismus der Römer und deren hierarchisch patriarchale Gesellschaftsstruktur. Dadurch das das Christentum 303 AD zur römischen Staatsreligion wurde, wurden römische Konzepte und hierarchische Strukturen in die christliche Kirche mit aufgenommen, so dass diese auch nach Untergang des Römischen Reiches das Leben der in Westeuropa lebenden Menschen weiter stark beeinflussten. Außenpolitisch kann das Ringen um die Machtstellung in Europa als imperialistisch geprägte Bemühung angesehen werden. Dieses Ringen führte zu vielen gewaltvollen Auseinandersetzungen wie dem 30-jährigen Krieg, den Napoleonischen Befreiungskriegen und dem Ersten Weltkrieg. Der Imperialismus ermöglichte den Kolonialismus, den Sklavenhandel und die oft extreme Gewalt gegenüber den kolonialisierten Völkern. Innenpolitisch ermöglichte diese Sichtweise soziale Ungleichheit, die in extremen Fällen zu Aufständen und Revolutionen führten wie zum Beispiel dem Bauernkrieg und der Französischen Revolution.

Kriege, Aufstände und soziale Umwälzungen traumatisierten Einzelne, hatten aber auch negative Auswirkungen auf das soziale Verhältnis der Menschen untereinander und zur Gesellschaft. So hinterließ die extrem gewalttätige Reaktion auf den Aufstand der Bauern 1524-25 den Eindruck, dass die soziale Struktur der Gesellschaft unter keinen Umständen in Frage gestellt werden durfte. Viele Deutsche waren daher nach der Französischen Revolution bemüht, eine ähnliche soziale Umwälzung in Deutschland zu vermeiden. Mosse beschreibt, wie sich später der Teil der deutschen Bevölkerung, der gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Industrialisierung als Bedrohung empfand zu einer Revolution aufrief, die die deutsche Nation zurück zu ihren Wurzeln führen sollte. Wie die Künstler des Klassizismus und der Romantik meinten sie damit nicht eine soziale Umstrukturierung, sondern eine innere ‘Revolution’. Mosse macht deutlich, dass sich in diesem Fall die Gesellschaft von innen heraus erneuern sollte, während die Juden, die man mit der Modernität und all ihren negative Auswirkungen assoziierte, als die inneren Feinde angesehen wurden. Laut Mosse war Hitler daher in der Lage, das Verlangen nach dieser inneren deutschen Revolution aufzugreifen und daraus eine anti-jüdische Revolution zu machen (Mosse, 1964).

Wir haben gesehen, dass die gewaltsamen Auseinandersetzungen um die Vorherrschaft in Europa während des dreißigjährigen Krieges in manchen Gegenden der deutschen Fürstentümer so extrem waren, dass Mütter ihren Kindern davon in Schlafliedern berichteten. Gleichzeitig hatte die religiöse Indoktrinierung zur Folge, dass Missstände und Leiderfahrungen kaum zum Ausdruck gebracht wurden, so dass es nicht zu einer Verarbeitung traumatischer und verstörender Erlebnisse kommen konnte. Durch die Französische Revolution kam es zu sozialen Umwälzungen, bei der der Mittelstand als neue Klasse entstand, deren Mitglieder mit der Neudefinition ihrer sozialen Stellung zu kämpfen hatte und sich dadurch verunsichert und desorientiert fühlte. Nach der Besetzung durch die Napoleonischen Truppen zu Beginn des 19. Jahrhunderts waren sie diejenigen, die eine patriotisch nationalistische Propaganda schufen und förderten, die die Bevölkerung zum Verteidigungskrieg mobilisieren sollte. Dabei wurde das Bild des tugendhaften und wehrhaften Deutschen im Gegensatz zum französischen Feind etabliert. Durch die extremen Veränderungen und sozialen Umbrüche, die durch die Industrialisierung in Deutschland ausgelöst wurden, verstärkte sich das Gefühl der gesellschaftlichen Entfremdung, von der die Männer der deutschen Mittelschicht, insbesondere der unteren Mittelschicht betroffen waren. Das Gefühl von Scham und Erniedrigung, dass die Niederlage des Ersten Weltkrieges auslöste und die bedingungslosen Auflagen des Versailler Vertrages verstärkten den bereits bestehende Bezugsverlust. Mosse beschreibt, wie die völkische Bewegung genau diese dadurch entstandenen emotionalen Bedürfnisse befriedigen konnte, da sie den Entwurzelten durch eine Verbindung zur Natur, zur Gemeinschaft des Volkes und zu deren Geschichte ein Gefühl der Dazugehörigkeit and Neuorientierung bot. Er beschreibt wie sich die völkische Bewegung, zur Zeit der Napoleonischen Besatzung aus der Romantik heraus entwickelte. Männer wie Vater Jahn, Arndt und Fichte fingen während der Befreiungskriege an, das Volk als den heldenhaften Befreier der Deutschen zu propagieren.

Das Erlebnis der deutschen Unterwerfung, das durch die Napoleonischen Kriege ausgelöst und mit dem Wiener Kongress verstärkt wurde, gab der Idee des Volkes eine zusätzliche Bedeutung. Die Opposition gegen das soziale Chaos der Industrialisierung und Urbanisierung wurde danach durch die vereitelten nationalen Bestrebungen verstärkt. Einige suchten ein Ventil für ihre Frustrationen, indem sie das Volk mit dem Kosmos verbunden sahen und darin eine wahre und tiefere Realität zu sehen glaubten. Idealisiert symbolisierte das Volk die ersehnte Einheit, die in der Realität nicht verwirklicht worden war und in der utopischen ländlich-mittelalterlichen Welt, die durch die völkische Bewegung suggeriert wurde, war es möglich, den Wirren des städtisch- industrialisierten Lebens zu entkommen. Mosse erwähnt Schriftsteller, die völkische Ideen verbreiteten, wie Berthold Auerbach, Wilhelm Heinrich Riehl und Hermann Löns. Dabei kam es zur Verherrlichung bäuerlicher Helden und auch oft zu einer Faszination von Gewalt. Zu den Feindbildern zählte das entwurzelte Proletariat und die Juden als Repräsentanten der modernen Industriegesellschaft. Mosse beschreibt, wie sich die Ideologie der völkischen Bewegung unter dem Einfluss zweier Schriftstellers des späten 19. Jahrhunderts zu einer germanischen Religion entwickelte: Paul de Lagarde und Julius Langbehn. Als Propheten der völkischen Bewegung entwickelten sie Konzepte von Religion, nationaler Kreativität und Bildung, um eine nach volkstümlichen Prinzipien strukturierte Nation zu schaffen, zu einer Zeit, in der sich Deutschland zu einer modernen militärischen und wirtschaftlichen Macht entwickelte. Dabei wurden die fundamentalen Ideen der völkischen Bewegung, die vorrangige Stellung des Volkes und die Abscheu gegenüber den Juden weiter ausgebaut. Ein einflussreicher deutscher Verleger, Eugen Diederichs, der auch seit 1912 die Zeitschrift Die Tat herausgab, trug weiter zur Verbreitung völkischer Ideen bei, durch eine Wiederbelebung der romantischen Bewegung als ‚Neue Romantik‘. In ihr wurden völkische Ideen mit denen der Romantik verbunden. Die ursprünglich pantheistische Vision des Kosmos entwickelte sich zu einem Streben nach einer Germanischen Religion, rassistische Ideen, die auf pseudo-wissenschaftlichen Studien basierten, wurden integriert und eine Dringlichkeit, die völkische Idee zu verwirklichen war spürbar. Mosse hebt hervor, dass die Haltung Diederichs und die der meisten Schriftsteller, die er verlegte, intellektuell durchdacht und eher moderat als fanatisch war, was der Neuen Romantik einen Eindruck von Seriosität gab. Sie war von einer neuen vitalen Spiritualität durchdrungen, die sich dem Mechanismus und Positivismus der modernen Gesellschaft entgegenstellte, um, inspiriert von einem Verlangen nach Einheit, den deutschen nationalen Charakter wieder aufzubauen. Laut Mosse war Diederichs ‚Neue Romantik‘ auch ein Idealismus der Tat, der nach konkreten Mitteln suchte, sich zu verwirklichen. Diederichs war sehr an deutscher Kulturgeschichte interessiert und verlegte alte deutsche Mythen und Sagen, um den Geist des Volkes für alle zugänglich zu machen. Die Sonne wurde als der wahre Gott der Germanen angesehen und Sonnenverehrungen wurden ein wichtiger Teil der religiösen Rituale. Da die Jugendbewegung an diesen Ritualen teilnahm, standen Volksmusik and Tanz im Vordergrund. Mosse hebt hervor, dass Diederichs und seine Kollegen nicht wirklich antisemitische Einstellungen vertraten, jedoch ein elitäres Denken praktizierten und glaubten, dass eine kleine Gruppe Auserwählter, zu denen sie sich selbst zählten, dazu bestimmt waren das kulturelle Leben Deutschlands wiederzubeleben.

Laut Mosse war es diese elitäre Haltung, die es ihnen unmöglich machte, eine wirklich große Anhängerschaft zu bekommen und dadurch eine Veränderung der Gesellschaft zu bewirken. Die Nationalsozialisten dagegen waren später in der Lage die ideologische Basis, die die ,Völkische Bewegung‘ und die ,Neue Romantik‘ gelegt hatten, für ihre Zwecke auszunutzen. Was als Leidenschaft, die Gesellschaft verändern zu wollen begann, wandelte sich im Laufe der Zeit in eine Verherrlichung von Gewalt. Hitler würde später dieses Verlangen als ‚den heldenhaften Willen dem Volk zu dienen‘ nennen. Die zunächst antiintellektuelle Bewegung Diederichs wurde später von den Nazis so weit in die Irrationalität getrieben, dass sie für die großen Massen verständlich wurde, die dadurch mobilisiert werden konnten.

Mosse erstellt eine detaillierte Beschreibung, wie sich die völkischen Ideen innerhalb verschiedener Gruppierungen in Deutschland und Österreich etablierten und so weit ausbreiteten, dass dadurch die Machtergreifung durch die Nationalsozialisten 1933 möglich wurde. Die Übernahme völkischer Ideen innerhalb des Bildungssystems, der Jugendbewegung, durch Professoren, Studenten und Organisationen wie dem Bund der Landwirte, dem Alldeutschen Verband, den Kriegsveteranen wie dem Stahlhelm, dem Deutschnationalen Handelsgehilfen-Verband (DHV) und durch die konservative Deutschnationale Volkspartei (DNVP) spielten dabei, so Mosse, eine entscheidende Rolle.

Mosses detaillierte Beschreibung ist hier in einer zusammengefassten Form wiedergegeben, da in ihr deutlich wird, wie sich eine verzerrte Weltsicht, die sich aus einem unbefriedigten Bedürfnis nach Zugehörigkeit entwickelt hatte, soweit verbreiten und entwickeln konnte, dass sie die institutionalisierte und kollektive Gewalt der Nationalsozialisten ermöglichte.

Das Bildungssystem und die Jugendbewegung

Dadurch, dass sich die völkische Ideologie mit dem weitverbreiteten Bemühen um eine Schulreform verband, gelang es völkische Ideen zu institutionalisieren und Schulen nach völkischen Entwürfen und Prinzipien aufzubauen. Mosse weist darauf hin, dass aufgrund eines Stellenmangels an Universitäten, frustrierte Akademiker als Gymnasiallehrer arbeiten mussten, denen die völkische Ausrichtung eine neue Perspektive gab. Die rassistisch/völkische Haltung dieser Berufsgruppe wird durch Studien belegt, die zeigen, dass von 1889 bis 1933 die häufigsten Beiträge zu antisemitischen Zeitschriften von Lehrern geleistet wurden. Während es regional große Unterschiede zwischen Schulen und Schulsystemen gab, zeigt jedoch eine Analyse deutscher Geschichtsbücher, dass in ihnen seit dem Beginn des 19ten Jahrhunderts alle Merkmale der germanischen Ideologie zu finden waren, die zu der Verbreitung völkischer Ideen notwendig waren. Wie wichtig die schulische Indoktrinierung in diesem Zusammenhang war, wird auch durch die Aussage des amerikanischen Historikers Fritz Stern deutlich, der erklärte, dass die tausend Lehrer, die in ihrer Jugend Anhänger von Lagarde und Langbehn waren, für die Machtergreifung Hitlers so wichtig waren, wie die finanziellen Hilfen, die er von deutschen Unternehmern erhielt. Mosse beschreibt, wie Schüler mit der völkischen Ideologie vertraut gemacht wurden, durch ihre Schulbücher, den Lehrplan und durch den Traum ihrer Lehrer den frustrierten Ruhm des deutschen Volkes wiederherzustellen, und wie sich diese Schüler später der Jugendbewegung anschlossen. Diese hatte sich aus einem in 1901gegründeten kleinen Wandervereinen entwickelt und vergrößerte sich so schnell, dass sie 1911 schon 15000 deutsche Jugendliche zählte. In ihr wurden die ethischen and ästhetischen Werte der völkischen Ideologie mit Enthusiasmus aufgenommen und laut Mosse kann die Bewegung als radikaler Ausdruck der neuen Romantik angesehen werden, die die jüngere Generation durchdrang. Zu den Aktivitäten der Jugendbewegung gehörten neben Wanderungen und polyphonem Singen, auch der Besuch deutscher Gemeinden im Ausland und das Feiern von Riten germanischen Ursprungs. Mosse hebt hervor, dass das Singen von Volksliedern, sowie das Durchstreifen der Landschaft nicht nur romantische Ausdrucksformen waren, sondern dass beide das Gefühl einer sinnerfüllten Gemeinschaft durch die Verschmelzung von Natur und Tradition erzeugten, eine Gemeinschaft der Seele, die den Mitgliedern ein Gefühl von Zugehörigkeit gab. In der Jugendbewegung entwickelte sich die Bund-Formation basierend auf Führung, Volk und Gemeinschaft, während die völkische Denkorientierung der Jugendbewegung mit einer Ablehnung des parlamentarischen Prozesses verbunden war. Ganze Generationen deutscher Jugendlicher betrachteten stattdessen den Bund als die wirkliche Form politischer und sozialer Organisation im Einklang mit der Neuen Romantik und dem germanischen Glauben. Laut Mosse gibt es zwar keine direkte Verbindung zwischen der Jugendbewegung und dem Nationalsozialismus, jedoch hat die Jugendbewegung und die völkische Ideologie, die durch sie praktiziert und verbreitet wurde, wesentlich dazu beigetragen, die junge Generation auf die darauffolgende nationalsozialistische Ideologie vorzubereiten.

Mosse macht deutlich, dass Lehrer, Schüler, Schulreformer und die Jugendbewegung zur Institutionalisierung der Neuen Romantik beigetragen haben. Durch sie wuchsen ganze Generationen in dem Glauben auf, dass nur die in der germanischen Ideologie zum Ausdruck gebrachte Identifikation mit dem Volk, die Lösung der deutschen Krise sein konnte.

Studenten und Professoren

Zu Anfang des 19. Jahrhunderts hatte es eine starke Rechtsbewegung unter den deutschen Studenten gegeben, die, unter Anführung Vater Jahns, zur Verbrennung ungermanischer Bücher während des Wartburgfestes führte. Während dieser Hang nach rechts um 1848 kurzzeitig zurück ging, hatten die Studenten der 1880er Jahren die rechts extreme politische Richtung wieder aufgenommen. Laut Mosse war es die Enttäuschung darüber, dass die Vereinigung Deutschlands nach der Revolution 1848 nicht erreicht worden war und diese, als sie 1870 durch die Arme und Bismarck endlich verwirklicht wurde, nicht ein Ereignis war, an dem das ganze Volk emotional beteiligt war. Mosse weist darauf hin, dass 90% der Studenten aus der Mittelschicht kamen, die zu dieser Zeit um ihre wirtschaftliche, soziale und politische Position ringen musste, weil der Zugang zu akademischen Laufbahnen begrenzt war. Juden wurden in diesem Zusammenhang als Rivalen angesehen, anti-semitische Gefühle wurden intellektualisiert und Antisemitismus wurde unter den Studenten, zum direktesten Ausdruck völkischer Überzeugung. Auch in den Burschenschaften breitete sich eine rassistische Gesinnung aus, die sich von Linz und Wien auf ganz Deutschland ausdehnte und laut Mosse wurden an den deutschen Universitäten Studenten und Professoren zu den Vorreitern der völkischen Bewegung. Unter den letzteren gab es einige, die sich als Propheten des Nationalismus verstanden, wie Heinrich von Treitschke, Professor für Geschichte an der Universität Berlin, der seine akademische Stellung für patriotische Zwecke nutzte und dessen kulturgeschichtliches Buch ‚Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert‘ für die völkische Bewegung von großer Bedeutung wurde.

Organisationen, die die Verbreitung völkischer Ideologien ermöglichten.

Mosse beschreibt, wie der Bund für viele völkische Denker zur idealen Struktur einer elitären Gesellschaft wurde. Eine Reihe von Organisationen formten sich nach der Struktur des Bundes, das heißt sie basierten auf dem Führungsprinzip und dem engen Zusammenhalt männlicher Interessen. Auch die NSDAP übernahm diese Strukturierung in ihrer Anfangsphase.

Der Bund der Landwirte

Eine der völkisch geprägten Organisationen war der Bund der Landwirte, der, 1893 gegründet, die Interessen von Bauern und Landwirten vertrat, einer Berufsgruppe, die sich durch die rapide Industrialisierung Deutschlands in ihrer Lebensgrundlage bedroht fühlte. Der Bund der Landwirte berief sich auf das germanische Prinzip von Blut und Boden und bestand sowohl aus Kleinbauern als auch aus Großgrundbesitzern, die eine stark anti-semitische Grundhaltung verband. Die Organisation stand den konservativen Parteien politisch nahe und ihre Interessen wurden durch diese vertreten.

Alldeutscher Verband

Ab den 1890er Jahren hatten eine Reihe von Organisationen versucht, das Wesen der völkischen Ideologie umzusetzen und eine Einheit des deutschen Volkes zu verwirklichen. Vor dem ersten Weltkrieg war der Alldeutsche Verband eine der prominentesten Organisationen, die ein Programm vertrat, das auf völkischen Ideen aufbaute.

Der Alldeutsche Verband organisierte sich in 1890 als eine patriotische Gruppierung, die sich gegen die Übergabe Helgolands an England wehrte. Die Mitglieder des Alldeutschen Verbands wurden zu Sponsoren des deutschen Imperialismus unter einer völkischen Perspektive und forderten eine wirkliche rassische und kulturelle Vereinigung Deutschlands, bei der der deutsche Geist eine entscheidende Rolle in der Kultur, in sozialen Organisationen und in der Politik spielen sollte. Während sie zunächst den Bauernverbänden näherstanden als der Industrie, änderte sich das, als Alfred Hugenberg, der frühere Direktor von Krupp Mitglied wurde. Der Alldeutsche Verband sprach sich für den Krieg und eine Wiederaufrüstung aus, die die Schwerindustrie aus der Nachkriegsrezession helfen sollte. Die Mitglieder des Alldeutschen Verbandes waren respektable Bürger, denen ihr Ansehen sehr wichtig war und sie waren wie die Industriellen antikommunistisch eingestellt.

Heinrich Class, einer ihrer führenden Mitglieder, forderte eine deutsche Diktatur, in der sich die ideale Gesellschaft durch das ‚ewige Volk‘ verwirklichen könnte. Er unterstützte die Verbreitung einer judenfeindlichen Sichtweise innerhalb der Gesellschaft und verbreitete antisemitische Lehren. 1918 trat der Alldeutsche Verband in eine enge Verbindung mit der Deutsch Nationalen Volkspartei (DNVP) um seine politische Macht zu erweitern und die Republik anzugreifen. Es folgten enge Kontakte zum Militär und zur Regierung, was die effektive Verbreitung seiner ideologischen Propaganda ermöglichte. Die Machtergreifung Hitlers bedeutete das Ende des Alldeutschen Verbandes, da sich seine Mitglieder seit den frühen 1930er Jahren den Nationalsozialisten anschlossen. Laut Mosse repräsentierten die Nazis für sie die logische Vollendung ihrer eigenen völkischen Ideen.

Der Stahlhelm

Mosse weist darauf hin, dass, wie die Geschichte zeigt, Veteranen dazu neigen rechtsgerichtete Interessensgruppen zu bilden, besonders nach einer militärischen Niederlage. Die ehemaligen Soldaten wollen, dass die Nation, für die sie gelitten und für die ihre Brüder gestorben sind, unverändert bleibt und sie vereinigen sich, um sich für das Vaterland einzusetzen, für das sie ihr Leben riskiert haben. Die deutschen Soldaten waren nach ihrer Rückkehr von der Front mit grundlegenden Veränderungen konfrontiert, da die Monarchie durch eine Republik ersetzt worden war. Die sozialen Unruhen und Verwirrungen, die sie vorfanden, riefen in ihnen ein starkes Verlangen nach Ordnung und Stabilität hervor. Kriegsveteranen organisierten sich daher und formten zusammen mit völkischen Organisationen Bünde, wodurch sie genügend politische Macht erlangten, um politische Ereignisse beeinflussen zu können. Der Stahlhelm, die größte und bekannteste Veteranenorganisation wurde 1919 gegründet mit dem Ziel, die Interessen des Vaterlandes zu vertreten, dabei aber politisch neutral zu bleiben. Elemente des völkischen Denkens wie Rassismus und das Verlangen nach einer sozialen Organisation der Nation, die von der mittelalterlichen germanischen Gesellschaft inspiriert war, wurden übernommen. Mit einer anti-materialistischen und antimarxistischen Grundhaltung stand der Stahlhelm politisch der Deutschnationalen Volkspartei DNVP und ihrem Führer Franz Seldte nahe. Im Januar 1933 trat Seldte dem Koalitionskabinett NSDAP-DNVP bei und überwachte die Eingliederung des Stahlhelms in die NSDAP. Danach diente er im gesamten Dritten Reich als Arbeitsminister.

Der Deutschnationale Handelsgehilfen Verband DHV

Der DHV wurde 1895 gegründet um gewerbliche Angestellte zu organisieren und war Deutschlands größte Angestelltengewerkschaft. Wie der Stahlhelm hielt sich der DHV damals für politisch neutral, hatte aber vor dem Krieg enge Beziehungen zu dem Alldeutschen Verband aufgebaut und befürwortete wie dieser eine militantere und imperialistischere Außenpolitik. Laut Mosse waren die völkische Ideologie und der Antisemitismus von zentraler Bedeutung für die Organisationsstruktur und Existenz der Gewerkschaft und dienten dazu, Mitglieder unterschiedlicher Parteien wie der katholischen Zentrumspartei und sogar der Demokratischen Partei zu vereinen und ihnen einen gemeinsamen Nenner zu geben. Alle Mitglieder befürworteten eine antisemitische Innenpolitik, die die Probleme der Arbeiter sowie der gesamten Nation lösen sollte. Der DHV hatte darüber hinaus noch weitere völkische Tendenzen und enge Verbindungen zu anderen völkischen Organisationen. Mosse beschreibt die Mitglieder des DHV, die zum unteren Mittelstand gehörten, als kleinbürgerlich, antifeministisch und antisemitisch und um ihren sozialen Status besorgt, da sie fürchteten in das Proletariat abzusinken. Sie sehnten sich nach einer Rückkehr zu alten Institutionen und Bedingungen und hofften auf eine Wiederbelebung mittelalterlicher Gildestrukturen.

Obwohl die Gewerkschaft vielen rechten Parteien nahestand, war es für sie schwierig, enge politische Beziehungen aufzubauen, da sie die Interessen der Arbeitnehmer zu vertreten hatte. Der NSDAP gelang es jedoch die DHV für sich zu gewinnen, ihre Organisation zu übernehmen und sie nach 1933 in die Nationalsozialistische Arbeitsfront einzugliedern. Mosse macht deutlich, dass der böhmisch-österreichische Zweig des DHV schon von Anfang an politisiert war und eine radikale Perspektive vertrat. Dieser Zweig wurde bereits 1920 in die NSDAP eingegliedert.

Die DNVP

Mosse beschreibt wie die Konservativen in Deutschland in den von wirtschaftlichen Schwierigkeiten und Rezessionen geplagten 1880er und 1890er Jahren Verbindungen zu völkischen Organisationen aufnahmen. Nach dem Krieg wurde die 1918 gegründete Deutschnationale Volkspartei DNVP die wichtigste und am meisten respektierte Partei der politischen Rechtsparteien. Zu ihnen gehöhrten all diejenigen, denen Privateigentum, der Staat und die Kirche heilig waren und bis 1928 wurde auch die Loyalität dem deutschen Kaiser gegenüber aufrechterhalten. Die Partei vertrat die Interessen des Bundes der Landwirte und gründete in der Außenpolitik ein Bündnis mit dem Alldeutschen Verband.

Ihre antisemitische Haltung wurde in ihrem Tivoli-Programm deutlich, indem sie Juden als die Gegner konservativer Prinzipien diffamierten. Laut Mosse war nach 1918 die Angst ihrer Mitglieder vor einer marxistischen Revolution mit einer Angst vor einer jüdischen Dominanz verbunden und während sie selbst als angesehene Persönlichkeiten auftraten ließen sie rassistische Propaganda verbreiten in der Juden als das eigentliche Hindernis für das Erreichen einer idealen deutschen Gesellschaft dargestellt wurden. 1928 wurde Alfred Hugenberg Vorsitzender der DNVP. Hugenberg war ein Gründungsmitglied des Alldeutschen Verbandes, hatte zehn Jahre lang das Unternehmen Krupp geleitet, das für die deutsche Waffenproduktion zuständig war und hatte sich zusätzlich ein Medienimperium aufgebaut, um seine radikal nationalistischen Ideen zu verbreiten. Hugenberg hatte Unterstützung sowohl von der Industrie als auch von der Kultur und wandte sich in seiner obsessiven Angst vor der Linken auch an den Stahlhelm und die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiter Partei (NSDAP). Mosse beschreibt Hugenberg als einen Rivalen Hitlers, dessen Partei aufgrund ihrer elitären Haltung letztendlich gegen die NSDAP verlor, da sie sich nicht wie diese an die Massen richtete. Mosse hebt hervor, dass die DNVP als einer der wichtigsten Übermittler des volkstümlichen Denkens und der germanischen Ideologie gesehen werden muss, da sie durch ihre enge Verbindung zu Industriellen und Bänkern über große Ressourcen verfügte und aufgrund ihrer Seriosität viele Wähler erreichen konnte. Laut Mosse war es die Seriosität der DNVP, die Hitler zur Macht verhalf, während die Partei selber dabei leer ausging.

Mosse verdeutlicht, wie sich die völkische Ideologie unter angesehenen Konservativen, Veteranen und Angestellten verbreitete, und dadurch gestärkt von der aufstrebenden NSDAP übernommen werden konnte. Die meisten der hier erwähnten völkisch gesinnten Gruppen arbeiteten zunächst mit der Republik zusammen, mit dem Vorsatz, diese durch eine andere politische Ordnung zu ersetzten, die dem Interesse des Volkes eher entsprechen würde. Sie begünstigten den Aufstieg der Nazis, auch wenn sie ihren rassistischen Extremismus nicht befürworteten und begrüßten zunächst ihren antirepublikanischen antimarxistischen Beitrag. Wenn sie sich gegen die NSDAP wendeten, dann nur um ihre eigene politische Vormachtstellung zu verteidigen. Mosse hebt hervor, dass innerhalb der Gruppen, die sich der völkischen Ideologie verschrieben hatten, mit der Zeit der Drang nach einem politischen System entstand, das sich an natürlichen und alten Sitten orientierte, das Volk wiederbeleben und eine angemessen germanische Regierungsform einführen würde. Im Zentrum dieser Vision stand, laut Mosse, die Figur eines messianischen Führers (Mosse, 1964).

Mosses Beschreibungen zeigen sehr deutlich das kausale Verhältnis zwischen Erlebnissen von Frustration, Scham, Demütigung, sowie sozialer Entwurzelung und einer Bereitschaft, eine Ideologie zu verinnerlichen, die eine emotionale Kompensation für die emotionalen Verluste versprach auch wenn diese Gewalt miteinbezog. Dies lässt sich in dem Zusammenhang der deutschen Geschichte sowohl bei Individuen als auch bei kleineren und größeren sozialen Gruppen beobachten. So beschreibt Mosse die beiden völkischen Schriftsteller Langbehn und Lagarde als frustrierte Akademiker, die einen Groll gegen das etablierte Bildungssystem hegten, von dem sie ausgeschlossen waren und die ihre dadurch bedingte persönliche und berufliche Heruntersetzung durch ein aufgeblasenes Selbstwertgefühl kompensierten. Mosse beschreibt Lagarde als verärgert und Langbehn als mental instabil mit einem starken Hang zum Diktatorischen (Mosse, 1964). Wie bereits erwähnt waren viele Gymnasiallehrer frustrierte Akademiker; Bauern, Handwerker und kleine Angestellte fühlten sich in ihrer sozialen und wirtschaftlichen Stellung durch die gesellschaftlichen Veränderungen bedroht, die durch die industrielle Revolution ausgelöst wurden; die Männer der deutschen Mittelschicht fühlten sich seit der Französischen Revolution als Mitglieder einer neuen gesellschaftliche Klasse verunsichert. Die deutsche Vereinigung 1870 hatte nicht die emotionalen Erwartungen derer erfüllt, die so lange für sie gekämpft hatten; die Niederlage des Weltkrieges wurde von vielen als beschämend erlebt und die Konditionen des Versailler Vertrages als Erniedrigung; die wirtschaftliche Rezession und die Inflation der Nachkriegsjahre wurden von vielen als existentielle Bedrohung erlebt und die sozialen Unruhen, die dadurch ausgelöst wurden, verstärkten diesen Eindruck.

In einer Atmosphäre, die von Angst, Frustration, Demütigung, Scham, Verwirrung und Entfremdung geprägt war, wurde es möglich, diese starken emotionalen Bedürfnisse für eine rechts-radikale und gewaltvolle Politik zu mobilisieren.

 

Bibliographie

 Mosse, G. (1964). The Crisis of German Ideology. New York: Schoken Books.

Mosse, G. L. (1979). Ein Volk, ein Reich, ein Führer: deutsch völkische Ursprünge des Nationalsozialismus (Deutsche Erstausgabe ed.). Königstein: Athenäum Verlag.

Stern, Fritz (1961) The Politics Of Cultural Despair: A Study In The Rise Of The Germanic Ideology. Berkeley: University of California Press.

Abbildungen

https://www.amazon.de/Rembrandt-Als-Erzieher-Einem-Deutschen/dp/0274301520

https://www.wikiwand.com/en/Eugen_Diederichs#Media/File:Diederichs,Eugen_1867-1930.jpg

Lager der Bündischen Jugend in Berlin-Grunewald (Mai 1933) https://de.wikipedia.org/wiki/Bündische_Jugend#/media/Datei:Bundesarchiv_Bild_102-14642,_Berlin-Grunewald,_Zeltlager_der_bündischen_Jugend.jpg

https://de.wikipedia.org/wiki/Bund_der_Landwirte#/media/Datei:Hahn_075.jpg

 Altdeutsche Blätter

https://bildsuche.digitale-sammlungen.de/index.html?c=viewer&l=de&bandnummer=bsb00077485&pimage=7&v=100&nav=

https://oldthing.de/Passepartout-Ak-Christiaan-de-Wet-spricht-beim-Festmahl-des-Alldeutschen-Verbandes-18-Oktober-1902-0029366289

Der Stahlhelm in uniform, c. 1934

https://en.wikipedia.org/wiki/Der_Stahlhelm,_Bund_der_Frontsoldaten#/media/File:Naziuniformen_1934.jpg

https://de.wikipedia.org/wiki/Deutschnationaler_Handlungsgehilfen-Verband#/media/Datei:Deutschnationaler_Handlungsgehilfen-Verband_100_Mk_1922.jpg

Logo der DNVP

https://de.wikipedia.org/wiki/Deutschnationale_Volkspartei#:~:text=Die%20Deutschnationale%20Volkspartei%20(DNVP)%20war,Konservatismus%20sowie%20völkische%20Elemente%20enthielt.

Antisemitische Wahlwerbung zur Reichstagswahl 1930

https://de.wikipedia.org/wiki/Deutschnationale_Volkspartei#:~:text=Die%20Deutschnationale%20Volkspartei%20(DNVP)%20war,Konservatismus%20sowie%20völkische%20Elemente%20enthielt.

Wappen der NSDAP

https://en.wikipedia.org/wiki/Nazi_Party#:~:text=The%20Nazi%20Party%2C%20officially%20the,supported%20the%20ideology%20of%20Nazism.