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„Wir brauchen zukunftsorientierte Perspektiven, die die Traumata der Vergangenheit nicht leugnen, sondern in Möglichkeiten für die Gegenwart verwandeln.“
Braidotti 2006 in eigener Übersetzung
Wir haben uns im ersten Teil dieser Blogserie durch den Verweis auf neurobiologische, psychotherapeutische und soziologische Studien mit Trauma und traumaähnlichen Erfahrungen auseinandergesetzt, um zu veranschaulichen, wie Gewalt durch die verlorengegangene Verbindung eines Menschen zu sich selbst und zu seiner natürlichen und sozialen Umgebung möglich wird. Dabei wurde deutlich, dass die physische, psychische und soziale Anlage des Menschen einen engen Bezug zu sich selbst und anderen ermöglicht und auch notwendig macht und dass dieser Bezug durch traumatische oder traumaähnliche Erlebnisse durchbrochen werden kann. Für den einzelnen Menschen war es die unbewusste und beständig wiederkehrende Erinnerung an ein lebensbedrohliches Ereignis, das die Fähigkeit mit der sich ständig verändernden Realität des Lebens in Verbindung zu bleiben beeinträchtigte. Im sozialen Bereich waren es Erlebnisse von Scham, Verlust einer Bezugsperson und Erniedrigung, die, unaufgearbeitet, den Eindruck eines verlorenen Bezugs auslösen können und im gesellschaftlichen Zusammenhang waren es soziale Krisen, die ein Gefühl der sozialen Entwurzelung und damit eines Verlustes der kollektiven Identität verursachen. Wir haben auch gesehen, wie diese Bezugsverluste auf den jeweiligen Ebenen mit Gewalt in einem kausalen Zusammenhang stehen: dadurch, dass sie selbst zu gewalttätigem Handeln führen, dieses fördern, ermöglichen oder zulassen.
Auf diesem Verständnis aufbauend haben wir uns im zweiten Teil dieser Blogserie mit der deutschen Geschichte auseinandergesetzt, um zu verfolgen, wie sich in diesem konkreten Zusammenhang der Verlust von sozialer und gesellschaftlicher Verbundenheit entwickelt und verstärkt hat, bis hin zur Ausbreitung einer verzerrten Ideologie, die zu der kollektiven, institutionalisierten und industrialisierten Gewalt des Nationalsozialismus führte. Wir haben dazu bestimme Zeitpunkte der deutschen Geschichte beleuchtet, die besonders von sozialen Krisen betroffen waren und haben kulturelle Produktionen dieser Zeiten analysiert, um festzustellen, inwieweit und in welcher Form sich soziale und gesellschaftliche Bezugsverluste mit der Zeit verstärkt haben.
In dem letzten und dritten Teil dieser Blogserie werden wir beleuchten, wie verloren gegangene Bezüge wieder hergestellt werden können und was wir aus der extremen Gewalt des deutschen Nationalsozialismus lernen können, um ein friedliches Zusammenleben im Einklang mit uns selbst und unserer sozialen und natürlichen Umgebung zu ermöglichen.
Der Wiederaufbau von verlorengegangenen Bezügen
Trauma-Therapie
Auf der Ebene der individuellen Psychologie kann der Bezug des einzelnen zu sich selbst, zu anderen und zu seiner Umgebung, der durch die ständig wiederkehrende traumatische Erinnerung unterbrochen wird, durch Traumatherapie wieder hergestellt werde. Dabei werden die traumatischen Erinnerungen auf verschiedene Weise wachgerufen, unter Umständen, die es ermöglichen, die ehemals als bedrohlich erlebten Ereignisse als nicht mehr bedrohlich neu erleben zu können. Die synaptischen Verbindungen, die ein Fortbestehen der Erinnerung ermöglichen, werden dann von Proteinen und nicht von Prionen (krankhaften Proteinen) aufgebaut, sodass die Synapsen auf natürliche Weise abgebaut werden können, wenn die Reizstimulation aussetzt. Ein Vergessen eines nicht mehr relevanten Ereignisses wird dadurch wieder möglich und die Blockade zu einer Verbundenheit mit der sozialen und natürlichen Umwelt wird beseitigt. Wie in der Genealogie des Traumakonzepts erwähnt, wurden Hysterie und dissoziative Störungen bereits im 19. Jahrhundert erkannt und mit Therapiemethoden behandelt, von denen einige, mit Ausnahme der Psychoanalyse, die Verwendung von Hypnose miteinbeziehen. Seit den 1980er Jahren wurden zusätzliche Methoden entwickelt, bei denen kognitive und nichtkognitive Elemente häufig in Kombination verwendet werden. Ich werde kurz auf eine Reihe von Therapiemethoden eingehen, die eine Verarbeitung traumatischer Erfahrungen ermöglichen können. Mein Fokus wird sich auf jene Methoden beschränken, die veranschaulichen, wie verlorengegangene Bezugsverluste in diesem Zusammenhang wieder hergestellt werden können.
Die in diesem Sinne relevantesten Traumatherapie-Methoden sind:
1) Traumatic Incident Reduction: Eine Methode, die den Patienten durch einen Revisionsprozess zurück zu der traumatisierenden Erfahrung führt und ein Verarbeiten des Traumas durch kognitives Verständnis fördert. Hier wird der verlorene Bezug zu sich selbst durch ein Verstehen der eigenen Angst und ihrer Ursachen angegangen.
2) Somatic Experiencing (Levine 1997): Eine Methode, die die natürliche Fähigkeit des autonomen Nervensystems sich selbst zu regulieren wiederherstellt, nachdem diese durch ein traumatisches Erlebnis gestört wurde. Die Therapie beinhaltet, dass die zu behandelnde Person unter Anleitung das eigene physische und emotionale Erleben beobachtet, um die Art und das Ausmaß der Dysregulation, die sich infolge eines Traumas im Körper befindet, zu erkennen. Alle Änderungen im Körper, die während des Rückführungsprozesses auftreten, werden als Hinweise angesehen und nachverfolgt. Es werden Ressourcen eingerichtet, die es dem autonomen Nervensystem ermöglichen, in einen regulierten Zustand zurückzukehren. Die Patientin/der Patient wird kurzzeitig in den unregulierten Zustand zurückgebracht und dabei unterstützt, immer wieder in einen regulierten Zustand zurückzukehren (Pendulation), bis sich die durch die traumatische Erinnerung gestaute Energie entlädt und die natürliche Fähigkeit zur Selbstregulierung des Nervensystems wiederhergestellt ist. Der Bezug der Patientin oder des Patienten zu sich selbst, der durch die Dysregulation gestört wurde, wird hier durch eine Rückkehr in den regulierten Zustand ermöglicht (Levine, 2005).
3) EMDR: Eye Movement Desensitization Reprocessing. Für die EMDR Therapie werden im Rahmen der Behandlung zunächst auch Methoden traditioneller psychologischer Therapie angewendet. Während der Rückführung in die traumatische Erinnerung, wird jedoch dann durch regelmäßige Augenbewegungen von links nach rechts oder durch eine Konzentration auf einen regelmäßig pulsierenden Rhythmus die Neuverarbeitung der gespeicherten traumatischen Erinnerung stimuliert (Bergmann, 2000). Die regelmäßige Bewegung der Augen und der pulsierende Rhythmus simulieren die Verarbeitung von Erlebnissen im Schlaf durch das Träumen. Dadurch wird das traumatische Erlebnis ähnlich verarbeitet und kann als nicht bedrohliches Ereignis neu gespeichert werden. Die traumatische Erinnerung wird dabei in eine nicht traumatische Erinnerung umgewandelt und kann vergessen werden. Damit wird der ungestörte Bezug zur Gegenwart wieder ermöglicht.
Da für die meisten Methoden der Traumatherapie eine Rückführung in die traumatische Erfahrung kognitiv oder implizit erforderlich ist, sind in diesem Zusammenhang die folgenden vier Beobachtungen zu berücksichtigen:
1) Erinnerungen sind assoziativ und meist mit räumlichen Erfahrungen verbunden.
2) Erinnerungen sind stimmungskongruent (LeDoux 2002) und daher leichter zu wecken, wenn der emotionale Zustand zum Zeitpunkt des Abrufs dem des ursprünglichen Geschehens ähnlich ist.
3) Emotionale Erregung stärkt tendenziell die Erinnerungsfähigkeit.
4) Längere Erregung und Stress können den gegenteiligen Effekt haben und die Erinnerungsfähigkeit beeinträchtigen (LeDoux 2002: 222-223).
Bezugsverlust im sozialen und gesellschaftlichen Kontext und dessen Umkehrung
Wie bereits erwähnt kann ein Bezugsverlust auch im sozialen Umfeld vorkommen und durch den Verlust einer wichtigen Bezugsperson oder durch das Erleben von Scham und Erniedrigung ausgelöst werden. Durch eine Anerkennung dieser Emotionen sich selbst und anderen gegenüber kann der verlorengegangene Bezug wieder hergestellt werden.
Wie wir gesehen haben, kann auch im gesellschaftlichen Zusammenhang ein Bezugsverlust auftreten durch soziale Krisen, die zum Beispiel durch Revolution und Kriege ausgelöst werden und einen Verlust der sozialen Zugehörigkeit und ein Gefühl der gesellschaftlichen Entwurzelung zurücklassen können. Auch hier kann die Anerkennung einer erlebten Krise eine positive Aufarbeitung ermöglichen und damit die im gesellschaftlichen Zusammenhang wichtigen Bezüge wieder herstellen. Kulturelle Produktionen wie Lieder und Musikstücke, Bilder, Skulpturen, Literatur, Tanz, Theaterstücke und Filme können in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle spielen, da sie eine Kommunikation im gesellschaftlichen Kontext ermöglichen, durch die eine solche Anerkennung erfolgen kann.
Butoh Tänzer
Butoh als moderne Tanzform entwickelte sich in Japan nach der Bombardierung Nagasakis und Hiroshimas um diesem traumatischen Erlebnis Ausdruck zu verleihen.
Bibliographie
Bergmann, U. (2000). ,Further thoughts on the Neurobiology of EMDR: The Role of the Cerebellum in Accelerated Information Processing’. Traumatology, 6, 175-200.
Braidotti, R. (2006). Transpositions: On Nomadic Ethics. Cambridge: Polity Press.
Levine, P. (1997). Waking the Tiger: Healing Trauma: The Innate Capacity to Transform Overwhelming Experiences. Berkeley California: North Atlantic Books.
Levine, P. (2005). Healing Trauma. Boulder: Sounds True.
LeDoux, J. (2002). The Synaptic Self. New York: Penguin books.
Abbildungen
https://pixelsandwanderlust.com/perspective-in-photography/?utm_content=cmp-true
https://www.verywellmind.com/cognitive-processing-therapy-2797281
https://carolinejwalker.com/somatic-experiencing/
https://www.verywellhealth.com/emdr-therapy-5212839
Introduction to the World of Butoh