Blog 20: Die gute und die schlechte Nachricht und was wir aus der Gewalt des Nationalsozialismus lernen können

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Wie wir im zweiten Teil dieser Blogserie gesehen haben, ist die Gewalt des deutschen Nationalsozialismus dadurch ermöglicht worden, dass Bezugsverluste auf vielen Ebenen bestanden und sich über einen langen Zeitraum verstärkt haben. Die dadurch entstandenen emotionalen Bedürfnisse konnten ideologisch aufgegriffen und politisch manipuliert werden, um ein System zu fördern, in dem Gewalt institutionalisiert und industrialisiert wurde.

Das extreme Ausmaß dieser Gewalt macht es deutlich, wie wichtig es ist, dass verlorengegangene Bezüge im individuellen, sozialen und gesellschaftlichen Bereich anerkannt und so verarbeitet werden, dass es zu einer Wiederherstellung dieser Bezüge kommt. Nur dadurch kann Gewalt zukünftig verhindert und der Kreislauf von Gewalt und Trauma unterbrochen werden.

Die gute Nachricht besteht dabei darin, dass die Tendenz, Bezüge aufzubauen natürlicher Weise besteht. Dafür gibt es innerhalb der Neurologie, der Psychologie und Psychotherapie, der Soziologie, der Anthropologie, der Archäologie und der Verhaltensforschung eine Vielzahl von Hinweisen.

Dazu zählt die Plastizität des menschlichen Gehirnes, die es uns ermöglicht, durch ständige Anpassung im Fluss des ‚Hier und Jetzt’ präsent zu sein.

Auch der Spiegelneuronen-Effekt, der zeigt, dass Menschen sich unbewusst aufeinander einstimmen und die Handlungen, Gefühle und Intentionen eines anderen miterleben können, dadurch, dass die Gehirnzellen des Beobachters die Aktion der Gehirnzellen eines Gegenübers spiegeln, (Jung & Sparenberg, 2012) ist ein weiterer Beweis für unsere Veranlagung miteinander in Bezug zu stehen.

Rogers hat in seinen vielen Jahren der therapeutischen Praxis beobachtet, dass dem menschlichen Wesen eine positive und soziale Ausrichtung zugrunde liegt (Rogers, 1961).

Eines der revolutionärsten Konzepte, das aus unserer klinischen Erfahrung hervorgeht, ist die wachsende Erkenntnis, dass der innerste Kern der Natur des Menschen, die tiefste Schicht seiner Persönlichkeit, die Basis seines „tierischen Wesens“, von Natur aus positiv – und im tiefsten Innern sozialisiert, nach vorne strebend, rational und realistisch ist.

Rogers 1961 in eigener Übersetzung

Collins Theorie der Interaktions-Rituale, bei denen sich Mitglieder einer Gruppe mit ihrem biologischen Mikrorhythmus so aufeinander einstimmen, dass sich dieser verstärkt und eine Amplifikation der emotionalen Energie aller Beteiligten auslöst (Collins, 2004), bestätigt auch diese Anlage. Dass Menschen eher dazu neigen, einen positiven Bezug zueinander aufzubauen als gewalttätig zu interagieren, wird auch in Studien ersichtlich, die zeigen, dass Soldaten üblicherweise im Einsatz bewusst ihre Ziele verfehlen und eine starke körperliche Aversion gegenüber dem Töten zeigen (Collins, 2008).

Auch unsere genetische Grundveranlagung zu Empathie, Freundschaft, Kooperation und sozialem Lernen (Christakis, 2019) bestätigt diese Tendenz.

Wir haben eine Fähigkeit (durch Kooperation, Freundschaft und soziales Lernen), sehr geschickt auf die unzähligen Umstände zu reagieren, denen wir ausgesetzt sind, um eine Art begrenzte Flexibilität   zu manifestieren, die von unseren Genen geprägt ist.

Christakis 2019 in eigener Übersetzung

Dazu kommen die Funde aus der Kulturanthropologie, Archäologie und der menschlichen Paläontologie, die zeigen, dass der Mensch während des größten Teils seines Daseins auf der Erde ein Leben in Frieden und sozialer Gleichberechtigung geführt hat. (Fry, 2007) In dieser Zeit lebten die Menschen als Nomaden in losen Gruppen zusammen und ernährten sich durch Jagen und Sammeln. Fry hebt hervor, dass die einzelnen Mitglieder der Gruppen relativ autonom und gleichberechtigt waren, eine Gruppenführung kaum vorlag und das Teilen und Kooperation die vorherrschenden Aspekte des Jäger-Sammler-Ethos waren. Laut Fry waren die losen Gruppen der Nomaden nicht eng, sondern in einem flexiblen Gefüge miteinander verbunden, in der sich die Mitgliedschaft ständig veränderte (Fry, 2007). Dieses flexible, Im-Fluss-Sein erinnert an die Plastizität des menschlichen Gehirnes, die es uns ermöglicht, uns an eine ständig verändernde Umgebung anzupassen und dadurch mit dieser Umgebung in Bezug zu stehen. Das Leben in den losen Jäger und Sammlergruppen entsprach auf dieser Ebene den physiologischen Ausprägungen des Menschen.

All diese Beobachtungen weisen darauf hin, dass wir physisch, psychisch und emotional dazu ausgelegt sind, mit uns selbst, unserem sozialen Umfeld und unserer Umgebung verbunden zu sein. Es ist daher nur notwendig, die Blockaden zu dieser gegebenen Veranlagung zu beseitigen, so dass unserer Neigung zur Verbundenheit nichts im Wege steht.

Allerdings besteht die schlechte Nachricht darin, dass sich, wie das Zitat von Aristoteles zeigt, in Europa seit über 2000 Jahren eine Perspektive etabliert hat, die – auf Angst basierend – die soziale Gleichheit und Vernetzung aller Menschen aberkennt und dadurch Gewalt legitimiert und ermöglicht.

Auch Christakis erklärt, dass unsere Spezies zwar kognitive Systeme entwickelt hat, um Allianzen schnell zu erkennen und aufrechtzuerhalten, dass diese Systeme jedoch auch missbraucht und dazu eingesetzt werden können, um die Grundlage für gewalttätige Handlungen zu bilden (Christakis, 2019).

Rogers erklärt, dass Menschen nur dann zu einem konstruktiven sozialen Handeln neigen, wenn sie mit sich selbst und ihrem eigenen Erleben in Bezug sind, während die Menschen, denen ein solches Bewusstsein fehlt, mit Recht gefürchtet werden müssen (Rogers 1961).

Dazu kommt, dass, laut Louis Cozolino, Erlebnisse von Angst weitaus intensiver erlebt und weitaus langsamer vergessen werden als positive Erlebnisse (Cozolino 2014), so dass es leicht zu einer Perspektive kommen kann, die auf Angst beruht.

Frys Studien zeigen, wie es innerhalb der frühen Geschichte zu einer Zunahme an Gewalt kam. Er beschreibt wie sich die soziale Organisation von den losen Kleingruppen der Jäger und Sammler (25-50 Mitglieder), zu Stämmen (100 oder mehr Menschen), Fürstentümer und später Staaten entwickelten. Während die Kleingruppen der Jäger und Sammler politisch and sozial egalitär und ohne direkte Führung waren, änderte sich diese soziale Organisation durch die Agrarrevolution und die damit verbundene Sesshaftigkeit. Es bildeten sich Stämme, in denen die Menschen in Siedlungen lebten und sowohl Gartenbau als auch Tierhaltung betrieben.

Während sich zu dieser Zeit Führungsrollen entwickelten, waren diese zunächst schwach, das heißt Führung erfolgte durch Überzeugung und durch Vorbild, die soziale Organisation der Stämme war weitgehend egalitär, jedoch gab es bereits Unterteilungen in Untergruppen durch Verwandtschaftsverhältnisse (Clans). Die größeren Stammesgesellschaften oder Fürstentümer jedoch, die sich daraufhin entwickelten, hatten dagegen eine schon weitaus ausgeprägtere soziale Hierarchie. Häuptlinge oder Fürsten hatten Anspruch auf Privilegien, die von den Bürgern gewürdigt wurden.

Die Volkswirtschaften der großen Stammesgesellschaften oder Fürstentümer basierte oft auf Landwirtschaft oder Fischerei. Noch vor 5000 oder 6000 Jahren erlebten einige frühe Häuptlings oder Fürstentümer weitere organisatorische Veränderungen und die ersten Staaten entstanden.

Die Wirtschaft dieser frühen Staaten beruhte auf der Landwirtschaft, die Herrscher übten mehr Zwang aus als die Häuptlinge oder Fürsten, wirtschaftliche Spezialisierung, soziale Klassenunterscheidung, zentralisierte politische und militärische Organisation, die Verwendung von Schrift und Mathematik, Urbanisierung, großflächige Bewässerung von Pflanzen und die Entwicklung der Bürokratie wurden zu den Kennzeichen sowohl alter als auch modernerer Staaten. Fry erklärt, wie sich Konflikt und Gewalt mit der Entwicklung der gesellschaftspolitischen Komplexität veränderten. Unter einfachen nomadischen Sammlern und Jägern wurden Konflikte nur zwischen den betroffenen Individuen ausgetragen, was dadurch bestätigt wird, dass es keine archäologischen Funde gibt, die auf eine Kriegsführung in dieser Zeit hinweisen. Laut Fry verstärkten sich Konflikte und Gewalt mit zunehmender sozialer Segmentierung. So wurde ein Mord innerhalb eines Stammes nicht nur als Verlust für die unmittelbare Familie des Opfers, sondern allgemeiner für Mitglieder des Clans empfunden. Bei der Suche nach Rache konnte die größere Verwandtschaftsorganisation des Opfers auf jeden abzielen, der zum sozialen Segment des Mörders gehörte. Diese Form der ,sozialen Substituierbarkeit‘ (Kelly) ermöglichte Fehden.

Unter den Nationalstaaten konnte die soziale Substituierbarkeit zum Krieg führen, da ein Gewaltakt nicht nur Vergeltungsmaßnahmen gegen die tatsächlichen Täter, sondern gegen jeden provozierte, der als Mitglied derselben nationalen oder religiösen Gruppe wie die Angreifer angesehen wurde. Mit der Entwicklung der Staaten zeigen die archäologischen Funde häufig eine Zunahme der Häufigkeit und Intensivierung von Kriegen, ein Phänomen, das sich durch Bevölkerungsdruck oder Umweltveränderungen oft noch verstärkte (Fry, 2007).

Das Zitat von Aristoteles von 400-300 BC, spiegelt daher die soziale Segmentierung des alt-griechischen Staates wider. Das kausale Verhältnis zwischen dieser Segmentierung und Gewalt wird dabei deutlich, da die Perspektive, die Menschen in zwei unterschiedliche Gruppen aufteilt, die Legitimation von Gewalt ermöglicht.

Es ist diese Perspektive der sozialen Segmentierung oder Aufspaltung, die unsere Geschichte geprägt hat und auf der die Politik und Wirtschaft unsere Gesellschaft basiert, die wir revidieren müssen, wenn wir ein wirklich friedliches Zusammenleben ermöglichen wollen. Da wir dazu veranlagt sind, mit uns und anderen in Bezug und Harmonie zu leben, gibt es immer wieder Bemühungen, die der sozialen Segmentierung entgegenlaufen wie z.B. die Idee der Freiheit und Gleichheit, die die Französische Revolution inspirierte. Da jedoch die grundlegende Perspektive, auf denen sich unsere westliche Gesellschaft aufbaut, nie wirklich kritisch hinterfragt und revidiert wird, können diese Bemühungen nicht verwirklicht werden und es kommt stattdessen zu einer Verzerrung der ursprünglichen Absichten.

Die Geschichte der christlichen Kirche ist in diesem Zusammenhang ein gutes Beispiel. Während Gleichheit und Nächstenliebe der Lehre des Christentums zugrunde liegen, wurde die katholische Kirche nach dem Untergang des römischen Reiches zu einem Instrument der Macht, das die hierarchische Struktur der Antike übernahm und innerhalb der Gesellschaft propagierte. Die auf Angst basierende Perspektive, in der die Gleichheit und Verbundenheit aller Menschen nicht mehr gesehen wird, ist die Basis für Konflikt sowohl auf zwischenmenschlicher als auch auf politischer Ebene. Nur durch eine solche Perspektive wurde Kolonialismus und Rassismus möglich, und das Ausmaß an Gewalt, das durch diese Sichtweise legitimiert wurde und wird, ist grenzenlos, es sei denn es wird durch eine moralische und ethische Haltung eingeschränkt. Die Gewalt des deutschen Nationalsozialismus, die gegen all diejenigen angewendet wurde, die als ,anders’ eingestuft wurden, zeigt deutlich welch schwerwiegende Auswirkungen eine solche Sichtweise nach sich ziehen kann.

Bibliographie

Christakis, N. A. (2019). Blueprint, The Evolutionary Origins of a Good Society. New York: Little, Brown Spark.

Collins, R. (2004). Interaction Ritual Chains. Princeton: Princeton UP

Collins, R. (2008). Violence. Princeton: Princeton UP.

Cozolino, L. (2014) The Neuroscience of Human Relationships. New York: Norton.

Fry, D. P. (2007). Beyond War. New York: Oxford UP.

Jung, C., & Sparenberg, P. (2012). Cognitive perspectives on embodiment. In S. C. Koch, T. Fuchs, M. Summa, & C. Müller (Eds.), Body Memory, Metaphor and Movement (pp. 141-154). Amsterdam: John Benjamins.

Abbildungen

https://www.welt.de/wissenschaft/article118202099/Jaeger-und-Sammler-fuehrten-keine-Kriege.html

http://www.terra-human.de/kulturelles/hoehlenmalerei.htm

https://de.wikipedia.org/wiki/Stammesgesellschaft#/media/Datei:Catlinpaint.jpg

https://de.wikipedia.org/wiki/Stammesgesellschaft#/media/Datei:Ingolf_by_Raadsig.jpg

https://www.uni-bonn.de/de/universitaet/presse-kommunikation/publikationen/forsch/forsch-2021-02/artikel/krieg-und-gewalt-in-der-antike

http://www.hellenica.de/Griechenland/Kriegf%FChrung.html