Blog 21: Auf der Suche nach einer neuen Sicht

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In den letzten Blogs haben wir besprochen, wie die Tendenz des Menschen, sich als miteinander in Verbindung stehend zu erleben, durch traumatische Erinnerungen gestört werden kann und wie diese Störung zu einer verzerrten Sicht führt, die auf Angst basierend Gewalt legitimiert. Wir haben auch beobachtet, wie sich diese Sicht innerhalb der europäischen Geschichte etabliert hat und Unterdrückung, Terror und Kriege ermöglichen konnte. Um die Voraussetzung für ein friedliches Zusammenleben in der Zukunft zu schaffen, ist es daher nicht nur notwendig, die Aufarbeitung traumatischer Erlebnisse zu fördern, sondern auch die destruktiven Auswirkungen dieser verzerrten Sichtweise zu erkennen und zu revidieren.

Dass ein grundlegender Perspektivenwechsel dringend notwendig ist, wird auch durch die Aussagen der Literaturwissenschaftler Peter Haidu und Vincent Pecora deutlich. Haidu fordert eine Ethik, in der der ‚Andere‘ in seiner Gegenwart auf eine Weise angetroffen und anerkannt wird, die eine unbegrenzte Verantwortung erfordert, die „die eiserne Garantie für eine Nichtwiederholung” des Holocaust sein könnte (Haidu 1992: 282). Pecora fordert, dass der Holocaust in seinem historischen Kontext verstanden werden muss, um einen Perspektivwechsel zu provozieren, der weitere Gewalt verhindert.

,,Wenn das spezifische und schreckliche Leid der Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung nicht mobilisiert wird, um den Westen an die Barbarei zu erinnern, die selbst in seine bewundernswertesten Traditionen gefaltet ist, sondern um sie zu verschleiern und vielleicht heimlich ein selbstgefälliges Gefühl politischer Selbstzufriedenheit zu fördern, dann wird dieses Leiden immer wieder barbarischen Zwecken dienen.

Pecora 1992: 163 in eigener Übersetzung

Da die auf Angst basierende Perspektive, die manche Menschen als ‚Andere’ einstuft und Gewalt gegen diese ‚Anderen‘ legitimiert, die Grundlage unserer westlichen Gesellschaft bildet und unser Denken auf vielen Ebenen beeinflusst, ist ein grundlegendes Umdenken erforderlich. Sprache als Ausdruck unserer Denkweise kann in diesem Prozess eine wichtige Rolle spielen und eine Überarbeitung unseres Kommunikationsverhaltens kann dabei der Schlüssel für eine Veränderungen sein. Der amerikanische Psychologe Marshall B. Rosenberg entwickelte ein alternatives Kommunikationsmodell in Bezug auf Sprechen und Zuhören, das eine solche Änderung ermöglichen kann. Rosenberg identifizierte einen Bezugsverlust in Kommunikationen, bei denen Sprecher durch moralische Urteile und statische Verallgemeinerungen Gefühle wie Angst, Schuld und Scham bei ihren Zuhörern auslösen. Er nannte diese Art der Kommunikation ,lebensentfremdend’ und schlug ein Modell vor, das den Bezug zu sich selbst und anderen fördert. Er nannte dieses Modell ‚Gewaltfreie Kommunikation‘ (Non-Violent-Communication NVC). Rosenberg war davon überzeugt, dass es ein wesentlicher Teil der menschlichen Natur ist, mitfühlend zu geben und zu empfangen und dass ein Bezugsverlust zu uns selbst und anderen durch das verursacht wird, was er ‚destruktives kulturelles Lernen‘ nannte. Rosenbergs Modell der gewaltfreien Kommunikation macht dieses destruktive Lernen rückgängig, indem es lehrt, ohne Urteil oder Bewertung zu beobachten. Durch die Förderung eines urteilsfreien Erlebens wird Empathie sich selbst und anderen gegenüber möglich. Gefühle und Bedürfnisse können klar erkannt und kommuniziert werden, so dass Situationen entstehen, in denen die Bedürfnisse aller anerkannt, respektiert und berücksichtigt werden können (Rosenberg, 2003).

,,NVC hilft uns bei der Neuformulierung, wie wir uns ausdrücken und andere hören. Anstelle von gewohnheitsmäßigen, automatischen Reaktionen werden unsere Worte zu bewussten Reaktionen, die fest auf dem Bewusstsein dessen beruhen, was wir wahrnehmen, fühlen und wollen. Wir werden dazu gebracht, uns ehrlich und klar auszudrücken und gleichzeitig anderen eine respektvolle und einfühlsame Aufmerksamkeit zu schenken.

Rosenberg, 2003 in eigener Übersetzung

Rosenberg war der Ansicht, dass lebensentfremdende Kommunikation hierarchische soziale Strukturen widerspiegelt und verstärkt und dass eine Kommunikation, die den Bezug zu sich und anderen wiederherstellt, auch zum sozialen Wandel beitragen kann:

,,Lebensentfremdende Kommunikation stammt aus hierarchischen Herrschaftsgesellschaften und unterstützt diese, in denen große Bevölkerungsgruppen von einer kleinen Anzahl von Individuen zum eigenen Vorteil kontrolliert werden. Die Sprache der Ungerechtigkeit, ‚sollte‘ und ‚muss‘, ist perfekt für diesen Zweck geeignet: Je mehr Menschen geschult werden, in moralischen Urteilen zu denken, die Unrecht und Schlechtigkeit implizieren, desto mehr werden sie darin geschult, außerhalb von sich selbst – gegenüber externen Behörden – nach der Definition dessen zu suchen, was richtig, falsch, gut und schlecht ist. Wenn wir jedoch mit unseren Gefühlen und Bedürfnissen in Kontakt stehen, sind wir Menschen keine guten Sklaven und Untergebenen mehr.

Rosenberg, 2003 in eigener Übersetzung

Was Rosenberg ‚destruktives kulturelles Lernen‘ nennt ist Lernen, das auf einer Perspektive beruht, die urteilt, wie zum Beispiel zwischen Menschen, die zum Herrschen und solchen die zum Beherrscht Werden geboren wurden. Die Trennung durch das Urteil blockiert das Gefühl der sozialen Verbundenheit und legitimiert Gewalt. Um sich von dieser Gewalt loszusagen, die im Denken und Sprechen beginnt, muss man diesen Zusammenhang erkennen und sich bemühen, ein neues Denken und Sprechen zu erlernen, bei dem Personen niemals beurteilt oder verurteilt werden. Wir haben gesehen, dass wir uns, durch die synaptische Plastizität bedingt, ständig verändern und dadurch im ‚Hier und Jetzt‘ in dem Fluss einer sich immer wieder verändernden Umgebung präsent sein können. Jedes Urteil, ob positiv oder negativ, würde diesen Zustand des ‚Sich-Ständig-Verändern-Könnens‘ beeinträchtigen und kann damit als ‚nicht-lebens-bejahend’ und ‚gewalt-fördernd‘ verstanden werden. Die Philosophin Rosi Braidotti spricht von einem ,in becoming‘ (im Prozess zu werden) anstatt von einem ‚to be‘ (Sein) (Braidotti, 2006), um diesen wichtigen Unterschied deutlich zu machen. Gewalt fängt also schon dort an, wo wir uns oder andere beurteilen, und endet in einer hierarchischen Gesellschaftsstruktur, die von Unterdrückung und Gewalt geprägt ist.

,,Destruktives kulturelles Lernen… ist in unserem Leben so tief verwurzelt, dass wir uns dessen nicht mehr bewusst sind. Ebenso ist Schmerz, der durch schädliche kulturelle Konditionierung verursacht wird, ein so wesentlicher Bestandteil unseres Lebens, dass wir seine Präsenz nicht mehr unterscheiden können. Es erfordert enorme Energie und Bewusstsein, um dieses destruktive Lernen zu erkennen und es in Gedanken und Verhaltensweisen umzuwandeln, die von Wert sind und dem Leben dienen.

Rosenberg, 2003 in eigener Übersetzung

NVC ist ein sehr konkretes und vielschichtiges Lernsystem, das den notwendigen Perspektivenwechsel ermöglichen kann, der die Basis für ein wirklich friedfertiges Zusammenleben liefert.

Es wird immer Erlebnisse geben, die als lebensbedrohlich wahrgenommen werden und traumatische Erinnerungen hinterlassen, sowie Erlebnisse, die den sozialen und gesellschaftlichen Bezug negativ beeinträchtigen. Das Wichtige ist, dass ein Bezugsverlust, egal auf welcher Ebene er stattgefunden hat, wahrgenommen, anerkannt und so verarbeitet wird, dass die verloren gegangenen emotionalen Verbindungen wieder aufgebaut werden können. Gleichzeitig müssen wir uns um eine angstfreie Perspektive bemühen, in der der andere als Spiegel des eigenen Selbst erkannt und geschätzt wird und der Zustand des Miteinander-Verbunden-Seins als einzig mögliche Grundlage einer nachhaltigen Lebensweise gesehen wird.

Die Philosophin Rosi Braidotti spricht von einer Ethik der nachhaltigen lebensbejahenden Beziehungen. Diese Ethik ermöglicht das Erkennen und Neuverhandeln unseres ‚miteinander in einem Boot Sitzens ‘und führt zum

,,Aufbau von Gemeinschaften, in denen die ständige Veränderlichkeit des Lebens auf nüchterne weltliche Weise anerkannt wird und die uns an die vielfältigen ‚Anderen‘ in einem lebenswichtigen Netz von Wechselbeziehungen bindet.”

Braidotti, 2006 in eigener Übersetzung

Die Auseinandersetzung mit traumatischen Ereignissen wie dem Holocaust auf eine Weise, die den Verlust der Verbindungen anerkennt, die dieses Ereignis ermöglichte und die dadurch unser Selbstverständnis fördert, kann ein wichtiger Schritt in eine Richtung sein, die uns zurückführt zu unserer Fähigkeit zu Empathie und mitfühlender Interaktion. Trauma und traumatische Erlebnisse können auf diese Weise zu wertvollen Möglichkeiten für Wachstum und Lernen werden.

Bibliographie

Braidotti, R. (2006). Transpositions: On Nomadic Ethics. Cambridge: Polity Press.

Haidu, P. (1992). The dialectics of Unspeakability: Language, Silence, and the Narratives of Desubjectification. In S. Friedlander (Ed.), Probing the limits of cultural representation (p. 277). Cambridge: Havard UP.

Pecora, V. P. (1992). ‘Habermas, Enlightenment and Antisemitism’. In Probing the limits of cultural representation (p. 161). Cambridge: Havard UP.

Rosenberg, M. B. (2003). Nonviolent Communication: A Language of Life. Encinitas: Puddledancer Press.

Abbildungen

https://photographycourse.net/perspective-photography/

https://en.wikipedia.org/wiki/Nonviolent_Communication#/media/File:MarshallRosenberg1990.jpg

https://en.wikipedia.org/wiki/Nonviolent_Communication#/media/File:Gewaltfreie_Kommunikation_nach_Marshall_Rosenberg.jpg

https://www.stratford-herald.com/news/three-men-of-the-cloth-in-a-boat-9133030/