Blog 22: Nachwort

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Während diese Blog-Serie entstanden ist, haben wir als Weltbevölkerung eine Pandemie hinter uns gelassen, ausgelöst durch den Virus Covid 19 und erleben schon seit längerem die Bedrohung durch die Auswirkungen des Klimawandels, die Tag für Tag deutlicher werden. Zu den vielen Konflikten weltweit ist der Krieg in der Ukraine und in Gaza dazu gekommen. Gleichzeitig treten sowohl in Deutschland als auch in anderen europäischen und außereuropäischen  Ländern rechtsextremistische Bewegungen weiter in den Vordergrund.

Besonders der Klimawandel und seine Auswirkungen machen deutlich, wie sehr wir als Weltbürger miteinander vernetzt sind und gemeinsam in einem Boot sitzen, in dem wir füreinander und für unsere natürliche Umgebung Verantwortung tragen müssen, wenn wir diese Fahrt gut überstehen wollen.

Die neuen Konflikte in der Ukraine und im Gaza Streifen fördern eine auf Angst basierende Perspektive, die von Rüstungsbefürwortern in der Politik und in den Medien ausgenutzt wird, um die Notwendigkeit einer Abschreckung zu propagieren, während diplomatische Lösungsvorschläge kaum zur Sprache kommen.

Der aufkeimende Rechtsextremismus in Deutschland ist, meiner Meinung nach, unter anderem auch ein Zeichen dafür, dass der mentale und emotionale Ursprung des deutschen Nationalsozialismus noch nicht genügend erkannt, anerkannt und aufgearbeitet worden ist. Nur ein solches Erkennen und Verstehen, bei dem deutlich wird, wie wichtig emotionale, soziale und gesellschaftliche Bezüge sind und wie dringend notwendig es ist, Bezugsverluste auf allen Ebenen zu beheben, kann Gewalt in der Zukunft vermeiden. Marshall Rosenberg beschreibt eine gewaltfreie Situation als die, in der die Bedürfnisse aller Beteiligten berücksichtigt worden sind. Eines der Grundbedürfnisse des Menschen ist das Bedürfnis nach Sicherheit, und das Gefühl des sozialen Eingebundenseins ist, wie wir gesehen haben, für dieses Bedürfnis besonders ausschlaggebend. Adolf Hitler soll damals durch das Radio verkündet haben, das er allen, die kein Hemd hätten, ein braunes Hemd geben würde. Wie wir wissen, gab es zu dieser Zeit viele, die dieses Angebot gerne angenommen haben. Wenn wir also vermeiden wollen, dass sich dieser Teil der deutschen Vergangenheit wiederholt, müssen wir dafür sorgen, dass alle ein Hemd, das heißt ein Gefühl der Zugehörigkeit besitzen und das braune Hemden nicht als attraktive Alternative gesehen werden.

Dass die Bedeutung von sozialen Bindungen und Bezügen immer mehr Anerkennung erfährt, wird auch durch das Entstehung von neuen Studienbereichen wie der ‚Interpersonellen Neurobiologie‘ (Siegel 2012, Badenoch 2008), der, Sozialen Neurologie‘ (Cacioppo & Berntson et al 2002), der ,Affektiven Neurologie‘ (Panksepp 1998, 2004) und der ,Soziophysiologie‘ (Adler, 2002) deutlich. Ralph Adolphs, Professor für Psychologie, Neurowissenschaften und Biologie fasst diese Entwicklung wie folgt zusammen:  

„Wir sind eine äußerst soziale Spezies – es kann argumentiert werden, dass es unsere soziale Natur ist, die uns definiert und uns zu Menschen macht, dass sie es uns ermöglicht hat, bewusst zu sein oder dass wir ihr unser großes Gehirn verdanken. Als neues Fachgebiet erforschen die sozialen Hirnwissenschaften die neuronalen Grundlagen des Sozialverhaltens und haben eine Fülle von Daten hervorgebracht, die sowohl erstaunlich als auch verwunderlich sind. Wir finden neue Verbindungen zwischen Emotion und Vernunft, zwischen Handlung und Wahrnehmung sowie zwischen der Darstellung anderer Menschen und uns selbst. Nicht weniger wichtig sind die Verbindungen, die auch zwischen den Disziplinen hergestellt werden, um soziales Verhalten zu verstehen, da Neurowissenschaftler, Sozialpsychologen, Anthropologen, Ethologen und Philosophen neue Kooperationen eingehen.

Adolphs 2003 in eigener Übersetzung

Die wichtige Bedeutung von sozialen Bezügen wird auch durch das ,Human Dignity and Humiliation Studies Network‘ bekundet. Als ein Zusammenschluss von Akademikern verschiedener Disziplinen, die sich im Besonderen mit der menschlichen Würde und der Vermeidung von jeder Form von Erniedrigung befassen, möchte das Netzwerk zu einem groß angelegten, weltweiten Paradigmenwechsel beitragen, der unsere Welt in Richtung eines würdevolleren Lebens für alle bewegt. Die Gruppe Human Dignity and Humiliation Studies ist weltweit verankert und hat vier Agenden:

1.     Aufbau eines globalen Netzwerks, einschließlich Jahreskonferenzen zur gegenseitigen Bereicherung, Unterstützung und Generierung von Ideen, die Forschungs-, Bildungs- und Interventionsagenden befruchten

2.     Forschung, um das Phänomen der Demütigung zu untersuchen und besser zu verstehen

3.     Bildung, um Forschungsergebnisse zu verbreiten

4.     Intervention, um Demütigungen vorzubeugen und zu heilen (Das Human DHS Team, kein Datum)

Außerdem vermehren sich die neurobiologischen Studien, die sowohl die zentrale Bedeutung von sozialen Bezügen als auch unser Miteinander-Verbunden-Sein bestätigen. So schreibt Marco Iacoboni, ein Neurobiologe, der sich als einer der ersten mit dem Phänomen der Spiegelneuronen auseinandergesetzt hat:

Wir fühlen uns mühelos und automatisch ineinander hinein, weil die Evolution neuronale Systeme ausgewählt hat, die das Selbst mit den Handlungen, Absichten und Emotionen anderer verbinden. Je mehr wir die neuronalen Mechanismen [Prozesse] der Spiegelung verstehen, desto mehr wird uns klar, dass die Unterscheidung zwischen sich selbst und anderen in vielen Fällen als so gut wie fiktiv angesehen werden kann. Wir haben in unserem expliziten Diskurs die Unterscheidung zwischen Selbst und Anderen geschaffen, zusammen mit vielen anderen Konstrukten, die uns trennen. Im Gegensatz dazu sieht uns unsere Neurobiologie in einem Zustand des ‚Miteinander Vereint-Seins.

Iacoboni 2014 in eigener Übersetzung

Da diese Blogserie auf einer Doktorarbeit beruht, habe ich mich hier auf eine wissenschaftliche Perspektive beschränkt. Die Erkenntnis, dass wir als Menschen untrennbar miteinander und mit unserer natürlichen Umgebung in einer fließenden Verbindung stehen und dass dieses Bewusstsein die Voraussetzung für ein friedliches Zusammenleben und Überleben ist, ist nicht neu. Eine ähnliche Botschaft wird und wurde unter anderem von spirituellen Lehrern wie zum Beispiel Mooji, Thich Nhat Hanh und Eckhardt Tolle propagiert (um hier nur einige von vielen zu nennen).

Wenn wir also erkennen und anerkennen, dass wir dazu ausgelegt sind, mit uns selbst und unserem sozialen und natürlichen Umfeld in einem engen jedoch auch flexiblen Bezug zu stehen, der ein lebendiges, sich ständig veränderndes Sein zulässt, können wir gewaltfrei mit uns und anderen zusammenleben. Vielleicht werden sich dann auch Verhaltensstrukturen wie ein sesshaftes Leben und festgefahrene Vorstellungen, wie die einer Nation anzugehören, auflösen und Verhaltens- und Denkweisen entwickeln, die unserem eigentlichen Wesen mehr entsprechen.

Wie so oft müssen wir, um eine Veränderung zu erreichen, bei uns selbst anfangen und alle Verhaltens- und Denkweisen berichtigen, die ein ‚Im Fluss Sein’ und ein ‚mit uns und anderen in Bezug stehen’ verhindern. Dazu gehört sowohl ein Erkennen, Anerkennen und Verarbeiten unserer Traumata, als auch ein Erkennen und Berichtigen unseres destruktiven kulturellen Lernens, für das die Prinzipien der gewaltfreien Kommunikation eine Methode sein können.

Ein weiterer wichtiger Ansatz liegt in der kindlichen Früherziehung, da sich bei Ungeborenen, Säuglingen und Kleinkindern das Gehirn besonders schnell entwickelt und Erfahrungen und Erlebnisse dieser Zeit dadurch besonders prägend sind. Direkter Körperkontakt durch Tragen und Stillen kann Säuglingen und Kleinkindern ein konstantes Gefühl der Sicherheit und des sozialen Bezuges vermitteln und eine wichtige Basis für späteres soziales Verhalten und Erleben werden.

Während die Pandemie unseren Focus auf ein digitales Interagieren und Kommunizieren gelenkt hat, ist es wichtig, dass wir die elektronischen Medien nicht überbewerten und die Notwendigkeit für direktes Erleben und persönliche zwischenmenschliche Kontakte besonders für Kinder und Jugendliche nicht aus dem Auge verlieren.

Dabei dürfen wir nicht vergessen, dass es gerade unsere Fähigkeit, zwischenmenschliche Bezüge aufzubauen, die Kooperation und soziales Lernen ermöglichen, die Eigenschaft ist, die es der Spezies Mensch bisher möglich gemacht hat, mit schwierigen Situationen umzugehen, gemeinsam Auswege zu finden und gemeinsam zu überleben.

Junge Frau im Park

Der pessimistische Blick, der die Menschen voneinander trennt, indem er das Böse hervorhebt und Unterschiede herausstreicht, übersieht eine wichtige zugrundeliegende Einheit und unsere gemeinsame Menschlichkeit. Das Projekt der Evolutionssoziologie, mit dem wir uns befasst haben, zeigt, dass Menschen in jeder Hinsicht dazu ausgelegt sind, eine bestimmte Art von Gesellschaft zu schaffen – eine Gesellschaft voller Liebe, Freundschaft, Kooperation und sozialem Lernen.

Christakis, 2019 in eigener Übersetzung

Eine Auseinandersetzung mit den eigenen Traumata und den Traumata unseres näheren sozialen und weiteren gesellschaftlichen Umfeldes kann uns bewusst machen, dass jedes Erlebnis, wie negativ es auch ursprünglich gewesen ist, verarbeitet werden kann und dann das Potenzial hat, zu einem größeren Selbstverständnis und damit auch zu einem besseren Menschenverständnis beizutragen, das ein friedlicheres Zusammenleben fördert. Der wichtige Stellenwert zwischenmenschlicher Bezüge steht dabei immer im Mittelpunkt.

Festival Teilnehmer

Unsere individuellen Ansichten in eine soziale Perspektive zu stellen, unsere Grenzen und Vorurteile zu kennen und die Bedeutung menschlicher Beziehungen zu schätzen, hat das Potenzial, uns in eine liebevollere Welt zu führen.

Cozolino, 2014 in eigener Übersetzung

Bibliographie

Adler, H.M (2002) ‚The sociophysiology of caring in the doctor-patient relationship‘ in GEN INTERN MED 17, P:883–890. https://doi.org/10.1046/j.1525-1497.2002.10640.x

Adolphs, R (2003), Cognitive Neuroscience of Human Social Behavior’ in Nature Reviews Neuroscience, Vol. 4 P165-178. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/12612630/

Badenoch, B. (2008) Being a Brain-Wise Therapist: A practical Guide to Interpersonal Neurobiology. New York: Norton & Company.

Cacioppo, J. T., Berntson, G. G., Adolphs, R., Carter, C. S., Davidson, R. J., McClintock, M. K., McEwen, B. S., Meaney, M. J., Schacter, D. L., Sternberg, E. M., Suomi, S. S., & Taylor, S. E. (Eds.). (2002). Foundations in social neuroscience. MIT Press.

Christakis, N. A. (2019) Blueprint, The Evolutionary Origins of a Good Society . New York: Little, Brown Spark.

Cozolino, L. (2014) The Neuroscience of Human Relationships. New York: Norton & Company.

Iacobini, M.(2014) ‘Within Each other: Neural Mechanisms for Empathy in the Primate Brain’, in Empathy: Philosophical and Psychological Perspectives, Goldie P. and Coplan A. (Eds) P: 45-58. Oxford: Oxford UP.

Lennon, J. (1971) Imagine, song lyrics. Source: LyricFind

Imagine lyrics © Budde Music France, CONSALAD CO., Ltd, Downtown Music Publishing, Sentric Music, Sony/ATV Music Publishing LLC, TuneCore Inc.

Panksepp, J. (2004) Affective Neuroscience: The Foundations of Human and Animal Emotions

Oxford: Oxford UP.

Siegel, D.S. (2012) Pocket Guide to Interpersonal Neurobiology. New York: Norton & Company.

(Das HumanDHS Team, kein Datum)

https://www.humiliationstudies.org/whoweare/whoweare.php

  

Abbildungen

Photographien von Paula Jungmann