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Die Schlacht am Weissen Berg, 1620
Sozial politischer Hintergrund
Die 1517 von Luther initiierten Spaltung der religiösen Einheit Europas führte 1618 zu einem lokalen Aufstand böhmischer Calvinisten gegen die katholischen Habsburger, der sich in einen europäischen Krieg mit religiösen und imperialen Motivationen verwandelte. Reinhardt beschreibt, wie rivalisierende Fürstentümer verschiedener Konfessionen ausländische Unterstützung in ihrem Feldzug gegeneinander forderten, was zu einem Krieg in Europa führte, in dem Spanien-Österreich und Frankreich-Schweden die Hauptgegner waren. Das Eingreifen ausländischer Mächte verlängerte den Konflikt erheblich. Der Krieg endete 1648, die deutschen Fürstentümer verloren ihre Souveränität sowie eine beträchtliche Anzahl von Gebieten, einschließlich Elsass-Lothringen, an Frankreich. Reinhardt zufolge war der Dreißigjährige Krieg ein Kampf um Macht und Vormachtstellung in Europa, der unter dem Banner der Religion geführt wurde, und weitreichende Folgen für spätere politische Konflikte mit sich brachte. Reinhardt beschreibt in diesem Zusammenhang die imperialistischen Bemühungen des schwedischen Königs Gustav Adolf, des deutschen Generals von Wallenstein und des französischen Premierministers Kardinal Richelieu (Reinhardt, 1950).
Das Ausmaß der Not, die die Bevölkerung in vielen Gebieten erlebte, wird in der folgenden Schrift aus einem Tagebuch eines Dorfschuster aus dem Jahr 1634 deutlich:
„Die Truppen von Herzog Bernhard brachen in unser Land ein und plünderten uns vollständig von Pferden, Rindern, Brot, Mehl, Salz, Schmalz, Leinen, Kleidung und allem, was wir besaßen. Sie misshandelten die Menschen, erschossen, stachen und schlugen eine Reihe von Menschen zu Tode. Während wir uns in der Kirche aufhielten, zündeten sie das Dorf an und brannten fünf Ställe nieder. Weil die Truppen ihren Feinden nachjagten, verwüsteten sie alles, plünderten die kleine Stadt Giengen und brannten sie nieder. Die Stadt Geißlingen in Ulm versuchte sich schwach zu verteidigen. Sie wurde überrannt und mehrere hundert Menschen wurden massakriert. Dem Pastor wurde der Kopf abgeschnitten und der Ort war am Boden zerstört … Alle mussten noch einmal in die Stadt fliehen und wir blieben den ganzen Winter dort. Es war echte Not, Hunger und Tod. Wir waren zusammengepfercht und lebten in großer Not. Hunger und Preiserhöhung kamen gleichzeitig. Und danach die böse Krankheit, die Pest. In diesem und auch im nächsten Jahr starben viele hundert Menschen daran.“
Benecke 1978: 31, 33
Überfall auf einen Bauernhof Jaques Callot, 1633
Ein englischer Zeitgenosse beschreibt die Situation wie folgt:
„Deutschland … ist jetzt ein Golgatha, ein Ort der Totenschädel und das Aceldama, ein Blutfeld. Einige Nationen werden mit dem Schwert bestraft, andere mit Hungersnot, andere mit der menschenzerstörenden Pest. Aber das arme Deutschland wurde mit allen drei Eisenpeitschen gleichzeitig und seit über zwanzig Jahren schmerzlich ausgepeitscht.“
Edmund Calamy 1641, in eigener Übersetzung
Kultur-soziologischer Hintergrund
Der Geschichtswissenschaftler Gerhardt Benecke beschreibt die große Bedeutung der christlichen Religion zu dieser Zeit, die sich auf alle Lebensbereiche bezog und den Einfluss des Pfarrers und seiner wöchentlichen Predigten. Er macht deutlich, dass die Bevölkerung durch religiöse Indoktrination dazu angehalten wurde, Krisen und herausfordernde Erfahrungen als Strafen anzusehen, und als ein Zeichen dafür, dass sie durch ihre Sünden den Zorn Gottes auf sich gezogen hatte (Benecke, 1978). Da sich außerdem seit dem Mittelalter eine Sichtweise entwickelt hatte, die das Leben nach dem Tod weitaus höher bewertete als aktuelle Lebenserfahrungen, wurden Krisenerlebnisse kaum als solche anerkannt und durch kulturelle Produktionen zum Ausdruck gebracht.
Der deutsche Literaturwissenschaftler William. A. Coupe beschreibt, wie Ereignisse, die unstimmig schienen, durch politisch satirische Pamphlete kommentiert wurden. Diese Form der Satire entwickelte sich während des 30-jährigen Krieges als Variation der religiösen satirischen Pamphlete, die im Rahmen der Reformation entstanden waren. Die in unregelmäßigen Abständen veröffentlichten politischen satirischen Pamphlete brachten emotionale Spannungen zum Ausdruck und erleichterten durch das satirische Element die Konfrontation des Idealen mit dem Realen (Coupe, 1962). Ein ähnlich satirisches Element enthält der pikareske Roman, von dem Simplicius Simplicissimus von Grimmelshausen (1668) das bekannteste Beispiel ist. Der Roman spielt während des 30-jährigen Krieges, enthält autobiografische Elemente und gibt einen narrativen Bericht über die Kriegsjahre, der in der ersten Person Singular geschrieben ist. Dabei entsteht eine apokalyptische Atmosphäre, in der die Welt als Irrenhaus dargestellt wird und Gewalt als ein tägliches in seinem Vorkommen unberechenbares Erlebnis. Während der Krieg mit all seinen Gewalterfahrungen veranschaulicht wird, besteht die Hauptabsicht des Romans darin, seine Leser moralisch zu belehren. Ein weiteres Kulturbeispiel, das dem Erleben der damaligen sozialen Krise Ausdruck verleiht, ist das Wiegenlied Horch Kind horch…. Das Lied bezieht sich direkt auf das Erlebnis des Dreißigjährigen Krieges und vermittelt die Atmosphäre von Angst und Verunsicherung, die diese Zeit kennzeichnete.
Waffengattungen, Diego Ufano Archeley, Frankfurt 1614
Kulturbeispiel: Das Schlaflied ,Horch Kind horch wie der Sturmwind weht’
Horch Kind horch wie der Sturmwind weht und rüttelt am Erker
Wenn der Braunschweiger draußen steht der packt uns noch stärker
Lerne beten Kind und falten fromm die Händ´
damit Gott den tollen Christian von uns wend´
Schlaf Kind schlaf, es ist Schlafenszeit ist Zeit auch zum Sterben
bist du groß, wird dich weit und breit die Trommel anwerben
Lauf ihr nach, mein Kind hör deiner Mutter Rat
fällst du in der Schlacht so würgt dich kein Soldat
“Herr Soldat, tu mir nichts zu leid und laß mir mein Leben!”
“Herzog Christian führt uns zum Streit kann kein Pardon uns geben
Lassen muß der Bauer mir sein Gut und Hab
zahlen nicht mit Geld nur mit dem kühlen Grab”
Schlaf, Kind, schlaf, werde stark und groß die Jahre, sie rollen
Folg bald selber auf stolzem Roß Herzog Christian dem Tollen
Wie erschrickt der Pfaff und wirft sich auf die Knie
„für den Bauer nicht Pardon dem Pfaffen aber nie!“
Still, Kind, still, wenn Herr Christian kommt der lehrt dich zu schweigen!
Sei fein still, bis dir selber frommt ein Roß zu besteigen
Sei fein still, dann bringt der Vater dir bald Brot
wenn nach Rauch nicht schmeckt der Wind und nicht der Himmel rot
Interpretation des Liedtextes
Horch Kind horch wie der Sturmwind weht enthält 5 Strophen mit jeweils 4 Versen. Jede Strophe, abgesehen von der dritten, mittleren Strophe, enthält Elemente, die typisch für ein Schlaflied sind. Eine Mutter spricht zu einem Kleinkind, das Kind wird dazu aufgefordert zu schlafen, sich zu beruhigen, erwachsen zu werden und stark zu sein, zu beten und fromm zu sein. Einige dieser Aufforderungen enthalten Wiederholungen wie: Horch Kind horch, Schlaf Kind schlaf und Still Kind still. In dem Text des Liedes bezieht sich die Mutter auf die unmittelbare Umgebung des Kindes: auf den stürmischen Wind, der das Haus erschüttert; auf den Abend, die Zeit zum Schlafen; auf die Jahre, die vergehen. Diese Referenzen sind durch Assoziationen verbunden, die im Verhältnis zur täglichen Kriegserfahrung stehen: Der Wind, der das Haus erschüttert, ist wie der Eindringling, der die Familie gewaltsam packt; die Zeit zum Schlafen ist auch die Zeit zum Sterben; die Jahre, die vergehen, bringen das Kind näher an seine eigene Teilnahme am Krieg. Strophe 3 enthält einen Dialog zwischen einem Opfer von Gewalt und einem Täter, der den Mangel an Gnade und sozialer Gerechtigkeit dieser Zeit veranschaulicht. Durch die Art und Weise der Ansprache, wird klar, dass das Opfer ein Bauer und der Täter ein Soldat ist. Während das Opfer nur in einem Vers zu Wort kommt, in dem es um sein Überleben fleht, was seine Hilflosigkeit verdeutlicht, erklärt der Täter in drei Versen, dass Barmherzigkeit nicht Teil seiner Mission ist und dass der Bauer ihm alles geben muss, was er hat, wofür er dann im Gegenzug ermordet wird.
Das Grundmodell der Erzählung von Greimas kann auch in dem Text dieses Schlafliedes gefunden werden. Während das Kind als ‚Subjekt’ gesehen werden kann, ist das ‚Objekt des Begehrens‘ seine eigene Sicherheit, der ‚Widersacher‘ ist der kriegstreibende Herzog Christian und seine Soldaten, der ‚Helfer‘ ist die Mutter und der ‚Superhelfer‘ ist Gott. Das Wiegenlied selbst kann als Teil des Hilfeversuches der Mutter gewertet werden, die das Kind vor der grausamen Realität warnt, die auf es wartet, und versucht es vor dem Schlimmsten zu bewahren.
Nach Toolans Methode der Erzählanalyse können Charaktereigenschaften durch Handlungen ersichtlich werden, wenn sie nicht durch Adjektive beschrieben werden. Die Charaktere, die in dem Lied erwähnt werden, sind:
1.das Kind, zu dem das Lied gesungen wird und das durch seine zu erwartende Aktion, ein Pferd zu reiten und sich der Armee anzuschließen, als männliches Kind identifiziert werden kann
2.die Mutter, die sich in der dritten Person Singular in der dritten Zeile der zweiten Strophe als Ratgeberin zu erkennen gibt
- der Vater, der gegen Ende des Liedes als der Brotbringer und damit als derjenige beschrieben wird, der das Kind mit dem täglichen Notwendigen versorgt
- Gott, der das Kind behüten und vor Schaden schützen kann
- Herzog Christian, der durch das Adjektiv ‚toll‘ als wild und unberechenbar beschrieben wird, sowie als stolz und mächtig durch seine erhöhte Position zu Pferde, während seine Handlungen ihn als gnadenlos und grausam charakterisieren.
Es ist die kriegstreibende Natur des Herzogs, die zwei sich konfrontierende Gruppen geschaffen hat, die Bauern und die Geistlichen als Opfer und die seiner Soldaten als die Täter. Bauern und Geistliche sind durch ihr Flehen und Knien in Schock und Angst als erniedrigt und hilflos dargestellt, die Soldaten als stolz und mächtig, auf dem Rücken ihrer Pferde. Die grausame Haltung des Herzogs und seiner Soldaten zeigt sich in ihrer Redeweise und ihrem Sarkasmus: Die Bezahlung des Bauern für seine Güter ist sein kühlendes Grab und es gibt keine Gnade für die Bauern und niemals Gnade für den Klerus.
Die in der zweiten Zeile der ersten Strophe zum Ausdruck gebrachte Angst, dass ein Eindringling die Familie ergreifen könnte, gibt einen Hinweis darauf, dass die Gruppe, zu der das Kind gehört, leicht zu den Opfern gehören könnte. In dieser Situation gewaltsamer Unterdrückung, in der nur Opfer und Täter existieren, besteht die Wahl zwischen dem Tod als Soldat im Kampf oder der Ermordung durch einen Soldaten zu Hause. Der Rat der Mutter an das Kind lautet, sich der Armee anzuschließen. Während klar wird, dass Sicherheit als das ‚Objekt des Begehrens‘, nicht erreicht werden kann, wird die Demütigung, zu Hause ausgeraubt und ermordet zu werden, als schlimmer angesehen als ein Tod im Kampf. „Fällst Du in der Schlacht so würgt dich kein Soldat“. Das Wiegenlied beginnt mit einem Hinweis auf den stürmischen Wind, der das Haus erschüttert, und beschreibt dabei die Naturkräfte als mächtig und gewalttätig wie den Feind. In der letzten Zeile scheinen sogar die Naturgewalten vom Krieg betroffen zu sein. Der Wind schmeckt nach Rauch und der Himmel ist rot. Diese enge Verbindung zwischen Krieg und Natur, die beide in ihrem rohen, gewaltigen und menschenbedrohlichen Zustand beschrieben werden, schafft eine Atmosphäre des Untergangs und vermittelt einen überwältigenden Eindruck von Hilflosigkeit.
Schlussfolgerungen
Das Wiegenlied Horch Kind horch… ist eine der wenigen kulturellen Produktionen, die die Lebenserfahrungen des Dreißigjährigen Krieges zum Ausdruck bringen. Allerdings muss darauf hingewiesen werden, dass diese Erfahrungen nicht alle deutschsprachigen Fürstentümer gleichermaßen teilten und dass sich das Lied spezifisch auf die Erfahrung der Menschen im Kreis Niedersachsen bezieht.
Die imperialen Motivationen, die den Dreißigjährigen Krieg zugrunde liegen, veranschaulichen die Verbindung zum griechisch-römischen Erbe und zu dem Konzept der Ungleichheit, das die Legitimierung von Gewalt ermöglichte. Das Ausmaß der Not, die die Bevölkerung der betroffenen Fürstentümer zu ertragen hatte, zeigt sich in der Darstellung der Zeitgenossen sowie im Ausmaß des Fatalismus der Kulturproduktionen, die sich auf die Kriegserfahrung bezogen. Aufgrund religiöser Indoktrinationen, bei der die Verantwortung für jede Not der Sünde des Einzelnen zugeschrieben wurde und aufgrund einer Perspektive, die sich eher auf das Leben nach dem Tod als auf die Gegenwart konzentrierte, war die Anzahl an kulturellen Produktionen, die die Erfahrungen von Krieg und Gewalt ansprachen und zum Ausdruck brachten erheblich reduziert. Die wenigen Produktionen, die versuchten, diese Erlebnisse anzusprechen, hatten ihre eigenen Grenzen und waren in ihrer Rezeption eingeschränkt: Die politische Satire drückt nur die Erfahrung von Unstimmigkeit aus, der Roman Simplicius Simplicissimus ist durch seine didaktische Intension beschränkt und auch nur für jene sozialen Klassen zugänglich gewesen, die zu dieser Zeit lesen und schreiben konnten und das Wiegenlied Horch Kind horch bezieht sich nur auf eine bestimmte Region. Coupe verweist auf die weitreichenden Auswirkungen dieser Unfähigkeit soziale Krisen kulturell zum Ausdruck zu bringen, indem er herausstellt, dass sich in Ländern wie England und Holland die ikonografische Tradition des Mittelalters, aus der sich die religiöse und politische Satire entwickelt hatte, weiter zum Medium der Karikatur entwickelte, während die satirische Produktion in Deutschland nach dem 30-jährigen Krieg aufhörte. Coupe führt diese Entwicklung auf das ,,Fehlen eines gesunden politischen Lebens oder einer aktiven und lautstarken politischen Meinung in Deutschland seit anderthalb Jahrhunderten” zurück (Coupe, 1962). Diese Abwesenheit kann als kollektive Antwort auf die Erfahrung des Dreißigjährigen Krieges verstanden werden, die Ähnlichkeit mit der dissoziativen Reaktion auf traumatische Erlebnisse auf der Ebene der individuellen Psychologie aufweist. In einem sozialen Kontext beobachtet Scheff (2007: 8) zwei mögliche Reaktionen auf unbestätigte Erfahrungen von Trauer, Wut und Scham:
1) Rückzug und Schweigen.
2) Wut, Aggression und Gewalt.
Da die damalige religiöse Perspektive die Konzentration auf das Leben nach dem Tod und damit den Rückzug aus der gegenwärtigen Realität ermutigte, lässt sich die Wahl einer kollektiven Reaktion aus Schweigen und Dissoziation leicht erklären. Der Mangel an kollektiver Identität, der durch ein Erleben von Gewalt und sozialer Ungerechtigkeit in der Bevölkerung der deutschen Fürstentümer dabei entstanden ist, wird für die folgenden Blogs von Relevanz bleiben.
Bibliographie
Benecke, G. (1978). Germany in the Thirty Years War. London: Edward Arnold.
Coupe, W. A. (1962). ‘ Political and Religious Catoons of the Thirty Years War. Journal of the Warburg and the Courtaud Institutes, 1/2(25), 65-86.
Reinhardt, K. F. (1950). Germany: 2000 Years. California: The Bruce Publishing Company.
Scheff, T. (2007). War and Emotions: Hypermasculine Violence as a Social System. Retrieved March 8, 2009, from http://www.soc.ucsb.edu/faculty/scheff
Toolan, M. J. (1988). Narrative: A critical Linguistic Introduction. London : Routledge.
Abbildungen
Die Schlacht am Weissen Berg 1620, Interfoto
Überfall auf einen Bauernhof Jaques Callot, Museum Dreißigjähriger Krieg, Wittstock
http://www.mdk-wittstock.de/seite/9046/museum-dreißigjähriger-krieg.html
Waffengattungen, Diego Ufano Archeley, Frankfurt 1614, Museum Dreißigjähriger Krieg, Wittstock
http://www.mdk-wittstock.de/seite/9046/museum-dreißigjähriger-krieg.html