Blog 15: Soziale Krisen der deutschen Geschichte, Die Preußischen Befreiungskriege 1797-1813

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Watercolour by Denis Dighton, 1815

Sozial-politischer Hintergrund

Der Dreißigjährige Krieg hinterließ die deutschsprachigen Fürstentümer unter dem Einfluss und der Kontrolle Frankreichs, was die Souveränität der deutschen Fürsten und deren Errichtung autokratischer Regime förderte (Reinhardt, 1950). Die Ideen des fürstlichen Absolutismus, die auf dem Konzept der Ungleichheit aufbauten, das von Aristoteles mehrere hundert Jahre zuvor formuliert worden war und in den Schriften Niccolo Machiavellis (1469-1527) ihren Ausdruck fanden, wurden auch von dem französische Kaiser Ludwig XIV (1638-1715) umgesetzt, der in seinen Anweisungen an den Dauphin schrieb:

Wir sind die Vertreter Gottes. Niemand hat das Recht, unser Handeln zu kritisieren. Wer als Subjekt geboren wird, muss gehorchen, ohne zu fragen.

Louis XIV (Longnon, 2001)

Simms beschreibt eine soziale Struktur innerhalb der deutschen Fürstentümer des 18. Jahrhunderts, die auf Herrschaft und Verpflichtung beruhte, und in der sowohl ländliche als auch städtische Gemeinschaften hierarchisch strukturiert waren. Er beschreibt die 150 Jahre vom Dreißigjährigen Krieg bis zur Französischen Revolution als einen kontinuierlichen Kampf um die Vorherrschaft in Europa, der durch die imperialen Bemühungen der politischen Machthaber angeheizt wurde. Simms verweist auf ein Zitat des zeitgenössischen deutschen Philosophen Gottfried Wilhelm Leibniz, der Deutschland als das Schlachtfeld bezeichnete, auf dem sich der Kampf um die europäische Vorherrschaft austrug. Simms erklärt, das Deutschland zu Ende des 18ten Jahrhunderts aus einer losen Ansammlung unabhängiger, halbunabhängiger and abhängiger Gebiete bestand, die das Heilige Römische Reich Deutscher Nation ausmachten (Simms, 1998). Dabei hatten sich während des 17ten und 18ten Jahrhunderts die Philosophien der Aufklärung in Europa weiterverbreitet und dadurch Kritik gegenüber absolutistischen Landesregierungen und ihren Unterdrückungsherrschaften entfacht. Diese kritische Haltung sowie die sich verstärkenden sozialen Missstände trugen 1789 zum Ausbruch der Französischen Revolution bei. Simms erklärt wie unter dem Banner der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit eine gesellschaftlich gleichere und vereinte französische Gesellschaft geschaffen wurde. Dabei wurden alle feudalen Privilegien abgeschafft und durch eine soziale Ordnung ersetzt, die auf Verdienst und nicht auf Geburt beruhte, das Eigentum der Kirche wurde verstaatlicht, während die Kirche selbst der Regierung unterstellt wurde, und die vielen nationalen und sprachlichen Minderheiten des Königreiches wurden unter Druck gesetzt die französische Sprache und Kultur zu übernehmen. Da diese neue Gesellschaftsstruktur die feudalistischen Gesellschaften der benachbarten west und mitteleuropäischen Länder in Frage stellte, entstand der Eindruck, dass das ‚neue Regime‘ nur dann eine Überlebenschance haben würde, wenn die Revolution auf ganz Europa ausgedehnt würde. Dies zu erreichen war zunächst die ideologische Intension der Revolutionskriege. Dabei wurde besonders das Heilige Römische Reich als Gegner gesehen, da es alles das vertrat, was das ‚neue Regime‘ verachtete: ein reaktionäres Durcheinander von kleinen kirchlichen Gebieten und Fürstentümern (Simms, 2014). Der Philosoph und politische Aktivist Thomas Paine der sowohl an den amerikanischen Befreiungskriegen als auch an der französischen Revolution maßgeblich beteiligt war schrieb in einem Brief an den Marquis de la Fayette 1792

„Ich hoffe, es endet in einem Krieg gegen den deutschen Despotismus und in der Befreiung ganz Deutschlands. Wenn Frankreich von Revolutionen umgeben sein wird, wird es in Frieden und Sicherheit sein.“

 Ein französischer Revolutionär schrieb im gleichen Jahr

 „Das Heilige (Römische) Reich, diese monströse Versammlung kleiner und großer Despoten, muss auch durch die Auswirkungen unserer unglaublichen Revolution verschwinden. Das Königreich Frankreich hat es unterstützt, die Französische Republik wird sich für seine Zerstörung einsetzen“

Da die Revolutionäre sich von allen Seiten von feindlichen Mächten umgeben fühlten forderten sie die französische Gesellschaft auf, sich dieser Herausforderung zu stellen, gründeten revolutionäre Armeen und führten 1793 die allgemeine Wehrpflicht ein. Napoleon Bonaparte, als siegreichster General der revolutionären Armeen wurde politisch so mächtig, dass er sich 1804 mit der Krone Karls des Großen zum französischen Kaiser krönen ließ. Laut Simms wollte Napoleon in erster Linie Europa dominieren und es nach französischen Bedingungen und zum Nutzen Frankreichs vereinen. Die Ausführung dieses Plans erforderte, dass er Deutschland kontrollierte, um seine Ressourcen zu sichern und das Erbe des Heiligen Römischen Reiches für seine eigenen imperialen Absichten zu nutzen (Simms, 2014). Reinhardt weist darauf hin, dass die napoleonische Invasion Deutschlands von denselben imperialen Motiven inspiriert war, die den Dreißigjährigen Krieg zwischen 1618 und 1648 initiiert hatten. Napoleon selbst erklärte: „Ich werde die Rolle spielen, die Richelieu Frankreich zugewiesen hat“ (Bonaparte in Reinhardt 1950: 323). Damit führte er die imperialistischen Bemühungen Ludwigs XIV fort, indem er sich um die französische Vormachtstellung über die deutschen Staaten bemühte, das linke Rheinufer in Besitz nahm und durch die Gründung des Rheinbundes einige deutsche Fürsten dazu bewegen konnte das Reich zu verlassen und sich ihm anzuschließen. Napoleon erreichte schließlich sein Ziel und besiegte sowohl die preußische als auch die österreichische Armee, was zu dem unrühmlichen Ende des Heiligen Römischen Reiches führte (Reinhardt, 1950). Die Erfahrung von Territorialverlust, Souveränitätsverlust und Abrüstung, die die Folge des Dreißigjährigen Krieges gewesen war, wiederholte sich mit Napoleons triumphalen Einzug in Berlin und den darauffolgenden Jahren, die von Besatzung und Forderungen nach Kriegsentschädigungen geprägt waren. Laut Simms hat diese Erfahrung der Invasion, Teilung und Besetzung durch Frankreich eine ganze Generation von Deutschen traumatisiert (Simms, 1998).

Mezzotint by Jazet after Steuben, published by Jazet and Theodore, Vibert, Bance and Schroth, 1870

Kultur-soziologischer Hintergrund

Die Historikerin Karen Hagemann beschreibt, wie Napoleons Sieg über die preußische Armee im Jahr 1806 zu einer sozialen, politischen und wirtschaftlichen Krise in Preußen führte, die große Teile der Bevölkerung betraf und in patriotischen Kreisen eine intensive öffentliche Debatte über den Ursprung der Niederlage auslöste (Hagemann, 1997) (Hagemann, 2006). Der Verrat der deutschen Fürsten, die sich Napoleon angeschlossen hatten, wurde zusammen mit einem Mangel an nationaler Haltung für die Niederlage verantwortlich gemacht. Es wurde auch klar, dass der preußische Staat und sein Militär einer grundlegenden Reform bedurften und dass eine allgemeine Wehrpflicht nach französischem Vorbild erforderlich war, um der französischen Unterdrückung entgegenzutreten. Hagemann beschreibt, wie das Erwecken einer nationalistischen Gesinnung und die Konstruktion eines deutschen nationalen Mythos zu einer Notwendigkeit wurde, um eine ‚patriotische Opferbereitschaft‘ aufzubauen. Laut Hagemann wurde die Bereitschaft Waffen zu ergreifen auch durch die Hoffnung der Mittelschicht auf politische Emanzipation weiter verstärkt. Während die französische Besatzung bis 1808 andauerte, ging der preußische König vor dem Einmarsch der Grand Armee in Russland im Jahr 1812 ein Bündnis mit Napoleon ein und machte Preußen zu einem Einsatzgebiet für die einfallenden Truppen, was die wirtschaftliche Not weiter erhöhte. Als Napoleon im Dezember 1812 in Russland besiegt wurde, wurde die Zensur für nationalistische Propaganda aufgehoben und patriotische Gefühle in einer Vielzahl von Medien verbreitet, um die Bevölkerung für den bevorstehenden Krieg zu mobilisieren. Laut Hagemann war die Rolle des Liedes in diesem Zusammenhang besonders wichtig, da Lieder auch weniger gebildete Gesellschaftsschichten erreichen konnten. Sie betont dabei die Tradition des Militärliedes, das schon während der Französischen Revolution als Propagandamedium verwendet wurde. Hagemann macht deutlich, dass die wichtigste Funktion der patriotischen Lieder und Gedichte offenbar darin bestand, eine historische und religiöse Legitimation für den bewaffneten Kampf zu geben und emotional aufgeladene Bilder und Stereotypen bereitzustellen, die das kollektive Selbstverständnis förderten. Das Bild der Nation als ‚Volksfamilie‘ und der Armee als ‚Gemeinschaft der Brüder‘ fällt unter diese Kategorie. Die religiöse und populäre Sprache ermöglichte es patriotischen Liedern und Gedichten, alle Klassen anzusprechen, indem sie kollektives Wissen und akzeptierte Normen nutzten. Hagemann zufolge förderte die patriotische Propagandaliteratur auch das Konzept des deutschen Nationalcharakters, der als Gegenbild zum feindlichen französischen Nachbarn konstruiert wurde: tugendhaft, einfühlsam, tiefgründig, treu, aufrecht und tapfer (Hagemann, 1997). Im Gegensatz zu patriotischen Liedern, die den Waffenkampf als freudige Aufgabe darstellten, gab es auch antipatriotische und pazifistische Lieder, die zeigten, dass die Begeisterung für Krieg und das ‚Vaterland‘ nicht gleichmäßig in der Bevölkerung verteilt waren.

Aber nicht nur sprachlich basierte Medien spielten bei der Förderung patriotischer Gefühle eine wichtige Rolle, sondern auch Malerei, Skulptur und Architektur, die dazu eingesetzt wurden, das Gefühl der kollektiven Identität durch die Konstruktion einer nationalen historischen und mythologischen Vergangenheit zu fördern.

Bildtapete Olympische Feste 1824

Der Kulturhistoriker Robin Lenman beschreibt, wie sich nach dem Ende der Napoleonischen Kriege (1815) mit Bildlotterien und Wanderausstellungen, die von Kunstgewerkschaften organisiert wurden, ein Markt für zeitgenössische Kunst zu entwickeln begann, der zur Gründung von Kunstakademien und nationalen Galerien führte sowie zu einer Steigerung der Produktion, Ausstellung und dem Verkauf von Malereien. Es war auch ein Versuch, das deutsche kulturelle Defizit gegenüber anderen europäischen Nationen zu überwinden und die bis dahin vorherrschende kulturelle Hegemonie Frankreichs in Frage zu stellen.

Bronze Standbild

Lenman hebt hervor, dass internationale Ausstellungen zeitgenössischer Kunst zu ‚Männlichkeitswettbewerben‘ zwischen europäischen Ländern wurden, die in ähnlicher Weise von den Napoleonischen Kriegen betroffen waren und jetzt auch Kunst als Propagandamedium einsetzten.

Auch das Interesse an Geschichte als akademische Disziplin, dass vor dem 18. Jahrhundert begonnen hatte, wurde plötzlich durch die napoleonische Besetzung angeregt, angeheizt durch den Drang, sich auf ferne und ruhmreichere Zeiten zu konzentrieren, um patriotische Gefühle hervorzurufen und ein Gefühl der kollektiven Identität zu vermitteln. Lenman beschreibt, wie historische Gesellschaften und Museen gegründet wurden und wie Geschichte zu einem wichtigen Bestandteil intellektueller Debatten wurde, einen bedeutenden Einfluss auf die Architektur ausübte, zum Thema in der Literatur wurde und auch in der Malerei nun nach biblischen und mythologischen Themen an dritter Stelle stand. Eine Investition in öffentliche Kunst in Form von Fresken, Skulpturen und Denkmälern sollte einen weiteren Beitrag leisten, eine Beziehung zur Geschichte herzustellen, wobei Einweihungen und Reden zusätzliche Möglichkeiten für patriotische Propaganda baten.

Lenman betont, dass es die Männer der gebildeten deutschen Mittelschicht waren, die, obwohl sie zu dieser Zeit eine Minderheit darstellten, die Protagonisten dieser Propaganda waren und sich zunehmend als Botschafter der deutschen Kultur verstanden, die als Quelle nationaler Werte galt. Er weist auf die ungleiche Beteiligung sozialer Gruppen an diesem Prozess hin, wobei die Arbeiterklasse vom Genuss der bildenden Kunst ausgeschlossen und für bildende Künstler unsichtbar war, obwohl sich die bildenden Künstler als Repräsentanten der gesamten Nation darstellten (Lenman, 1997).

Ein Verständnis das Nationalismus als intellektuelle Konstruktion versteht, auf dem die Studien von Hagemann und Lenman basieren, teilen auch die historischen Soziologen Eric Hobsbawm und Benedict Anderson. Hobsbawm betrachtet nationale Traditionen sowie Überzeugungen und Wertesysteme als Erfindungen, die Werte und Verhaltensnormen vermitteln sollen, und er betrachtet symbolisch und emotional aufgeladene Zeichen als geschaffen, um ein Gefühl der Gruppenzugehörigkeit hervorzurufen. Die entscheidende Bedeutung von Geschichte sieht Hobsbawm darin, an die Zugehörigkeit zu einer dauerhaften politischen Gemeinschaft zu erinnern. Eliten werden dabei als die Protagonisten dieses jüngsten Aufbaus der Nation angesehen (Hobsbawm, 1983). Anderson betrachtet Nationen als imaginierte politische Gemeinschaften, die als tiefe horizontale Kameradschaften konzipiert sind, und führt das Konzept auf die großen religiösen imaginierten Gemeinschaften des Mittelalters zurück, wobei er die Nation als ein modernes säkulares Äquivalent ansieht (Anderson, 1983).

Kulturbeispiel: Das Soldatenlied  ,Holde Nacht, dein dunkler Schleier decket..‘

Holde Nacht, dein dunkler Schleier decket

Mein Gesicht vielleicht zum letztenmal;

Morgen schon lieg ich dahingestrecket,

Ausgelöscht aus der Lebend’gen Zahl

 

Morgen gehen wir für unsre Brüder

Und für unser Vaterland zum Streit

Aber ach! so mancher kommt nicht wieder,

wo sich Freund an Freundesbusen freut.

 

Mancher Säugling lieget in den Armen

seiner Mutter, fühlt nicht an ihren Schmerz;

sie schreit himmelan, ach! um Erbarmen

und drückt hoffnungslos ihn an ihr Herz.

 

Freundlich hüpft und fragt ein muntrer Knabe:

Mutter, kommt nicht unser Vater bald?

Armes Kind, dein Vater liegt im Grabe,

sein Auge sieht nicht mehr der Sonne Strahl!

 

Dort liegt schon ein Held mit Sand bedecket,

Waise ist das Mädchen, ist der Knab

hier auch liegt ein Sohn dahingestrecket,

der den Eltern Brot im Alter gab.

 

Mädchen, denke nicht an holde Bande

denke nicht an Freud und Hochzeitstanz

denn die Liebe schlummert schon im Sande

schwinget hoch empor den Totenkranz!

 

Traurig, traurig, daß wir unsre Brüder

hier und dort als Krüppel wiedersehn

aber heilge Pflicht ist´s dennoch wieder

mutig seinem Feind entgegengehn

 

Reißt mich gleich des Feindes Kugel nieder

schwingt mein Geist sich freudig hoch empor

ach, wer weiß, sehn wir uns jemals wieder?

Darum, Freunde, lebt auf ewig wohl!

Interpretation des Liedtextes

Das Gefühl einer imaginären Gemeinschaft wird im Lied Holde Nacht in den ersten beiden Zeilen der zweiten Strophe ,,Morgen gehen wir für unsre Brüder und für unser Vaterland zum Streit” zum Ausdruck gebracht. Es war dieses Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Gruppe, die verteidigt werden musste, dass den damaligen Hörer dazu mobilisieren sollte, sein Leben zu opfern.

Die menschliche Erfahrung des zeitlichen Wandels wird von dem Philosophen Paul Ricoeur als das charakteristische Element narrativer Texte beschrieben (Ricoeur, 1984).  Obwohl der Text des Liedes Holde Nacht dein dunkler Schleier decket in seinem erzählerischen Inhalt begrenzt ist, wird auch in ihm ein zeitlicher Wandel dargestellt, der durch den Krieg ausgelöst wird. Indem das Lied das Leben in Friedenszeiten beschreibt und es dem Leben gegenüberstellt, das vom Krieg zerrüttet wird, bringt es in acht Strophen die Erwartung von Verlust und Trauer zum Ausdruck, die die Kriegserfahrung in Aussicht stellt.

Es gibt in der Erzählung des Liedtextes mehrere Subjekte: die Individuen und die Gruppen, die vom Krieg betroffen sind. Das jeweilige Subjekt ändert sich in jeder Strophe, beginnend mit dem einzelnen Soldaten in der ersten Strophe, was durch die Verwendung der ersten Person Singular ,,Morgen schon lieg ich hin gestrecket…” deutlich wird. In der zweiten Strophe wird die Perspektive auf die Soldaten als Gruppe ausgedehnt, was durch die Verwendung der ersten Person Plural ,,Morgen gehen wir für unsre Brüder…” zum Ausdruck kommt. In den folgenden vier Strophen wechselt das ‚Subjekt‘ zu dem Säugling und seiner Mutter, dem Jungen und seiner Mutter, einem Jungen und einem Mädchen, die Waisen werden, Eltern, die ihren Sohn verlieren und zu einem jungen Mädchen, das ihre Aussicht zu heiraten verliert. In allen vier Strophen wird die dritte Person Singular verwendet. Strophe fünf kehrt zu der Gruppe der Soldaten zurück, ausgedrückt durch die ersten Person Plural ,,Traurig, traurig, dass wir unsre Brüder” und Strophe sechs zu dem einzelnen Soldaten in der ersten Hälfte der Strophe, und abschließend zu der Gruppe der Soldaten, in der letzten Hälfte der Strophe jeweils ausgedrückt durch die erste Person Singular beziehungsweise Plural. Das Lied spiegelt dabei die Situation am Vorabend des Kampfes wider, in der die Aussicht auf Tod, Verletzung und Verlust, aus der Sicht derer, die vom Krieg betroffen sind zum Ausdruck kommt. Dabei umrahmt die Sicht derer, die den Krieg direkt erleben, hier die Soldaten individuell und als Gruppe, die Sicht derer die indirekt davon betroffen sind, Freunde und Angehörige zu Hause.

Der französische Literaturtheoretiker Gerard Genette definiert drei Aspekte narrativer Zeit: Reihenfolge, Dauer und Häufigkeit (Genette, 1980). Angewendet auf den Liedertext finden wir die Verwendung der Adverbien ‚Morgen’, ‚Morgen schon‘ ‚schon‘, ‚gleich‘ , und ‚bald’ in sechs der acht Strophen. Dadurch wird deutlich, wie sehr das Gefühl der Erwartung in den Strophen des Liedes präsent ist. Ein Hinweis auf Dauer erscheint in der ersten Strophe: ‚zum letzten Mal‘ und in der letzten Strophe ‚jemals‘ und ‚ewig‘. Die Verwendung von Superlativen erzeugt hier eine emotionale Intensität und verleiht der Situation Dramatik und den Eindruck von Endgültigkeit. Die letzte Zeile ist ein Abschiedsruf und verstärkt diesen Eindruck. Die Häufigkeit im Sinne von Wiederholung finden wir nur in Strophe sieben, in der die Pflicht des Soldaten erwähnt wird, sich ‚wieder’ dem Feind zu stellen.

Diese beiden letzten Zeilen der siebten Strophe und die folgenden beiden Zeilen der achten Strophe stehen im Gegensatz zum Hauptteil des Liedes, das als Klage und Ausdruck der Erfahrung von Verlust und Angst vor Verlust aus einer Vielzahl von Perspektiven gesehen werden kann. Während in den beiden letzten Zeilen der siebten Strophe eine patriotische Perspektive zum Ausdruck kommt in der es ein ‚heilige Pflicht‘ ist, sich dem Feind im Kampf zu stellen, wird in den darauffolgenden beiden Zeilen der Tod im Kampf als Heldentat dargestellt. Dadurch wird das, was von außen wie eine Niederlage aussieht, in dieser Perspektive zum Sieg. Der Kontrast zwischen dem Abschuss durch die Kugel des Feindes ,,Reißt mich gleich des Feindes Kugel nieder” und dem freudigen Hochsteigen des Geistes ,,schwingt mein Geist sich freudig hoch empor” bringt dieses Paradox weiter zum Ausdruck. Alle vier Zeilen spiegeln die damalige politische Propaganda wider, in der die Kriegsbeteiligung als heldenhafte und würdigende Verpflichtung dargestellt wurde. Interessanterweise wird gerade in diesen Zeilen eine starke Verbindung zu Religion und Spiritualität aufgebaut. Die Pflicht, in die Schlacht zu ziehen, ist eine ‚heilige’ Pflicht, und nachdem der Soldat niedergeschlagen wurde, ist es sein ‚Geist’, der vor Freude aufsteigt.

In den anderen Teilen des Liedes wird kein solcher Hinweis auf Spiritualität oder Religion gegeben. Nur in diesen Zeilen wird auch der Feind benannt. In allen anderen Strophen scheint es der Krieg selbst zu sein, der Leben zerstört und auf vielen Ebenen Verlust und Schmerzen verursacht. Das einzige andere patriotische Element des Liedes ist zu Beginn der zweiten Strophe zu finden, in der das ‚in den Krieg ziehen’ als eine tugendhafte altruistisches Handlung dargestellt wird ,,Morgen gehen wir für unsre Brüder und für unser Vaterland zum Streit”. Die zweite Strophe steht dadurch in Verbindungen zu den Zeilen der siebten und achten Strophe und deren propagandistischen Ausrichtung.  Es sind wohl diese Zeilen, die es wahrscheinlich ermöglicht haben, dass dieses Lied als offizielles Kriegslied zugelassen wurde. In allen anderen Teilen des Liedes werden die Texte, durch den Fokus des Liedes auf menschliche Beziehungen, emotional aufgeladen: die Bindung zwischen Freunden, die Beziehung zwischen Kind und Mutter, zwischen einem Kind und seinen Eltern, einem Sohn und seinen alternden Eltern, einem jungen Mädchen und ihrem Liebhaber. Das klagende Element wird durch die Verwendung von Kontrasten verstärkt, bei denen positive Emotionen durch die zerstörerischen Kriegserfahrungen zunichte gemacht werden: der Junge, der glücklich herumspringt und fragt, wann sein Vater zurückkehren wird, während der Vater lange begraben ist; das Mädchen, das anstelle eines Hochzeitstanzes einen Totenkranz erhält; die junge Mutter, die ihr Baby hoffnungslos ans Herz hält. Romantische Metaphern, die sich auf die Natur beziehen, wie die holde Nacht, die das Gesicht des Soldaten mit einem dunklen Schleier bedeckt, das Auge, das den Sonnenstrahl nicht mehr sieht, der Held, der bereits mit Sand bedeckt ist, die Mutter, die zum Himmel um Gnade ruft,  tragen weiter zum emotionalen Charakter des Liedes bei und verstärken den Eindruck der Tragik.

Dass Angst, Traurigkeit und Schmerz unter diesen Emotionen im Vordergrund stehen, wird durch die Wiederholung des Adjektivs ‚traurig’ zu Beginn der Strophe sieben, die Verwendung des Adjektivs ‚arm’, des Substantivs ‚Schmerz’ und der Verben ‚schreien’ und ‚weinen’ deutlich. Laut Toolan (1988) können sowohl Adjektive als auch Handlungen Hinweise zur Charakterisierung geben und zur Unterscheidung zwischen Täter und Opfer beitragen. Da das oben erwähnte Adjektiv und die Handlung im Zusammenhang mit den Subjekten des Liedes verwendet werden – das ‚arme Kind‘, ‚die Mutter … in ihrem Schmerz … schreit himmelan‘ werden die Subjekte damit als Opfer definiert was durch die wiederholte Verwendung des Verbs ‚dahingestreckt’ und des Verbs ‚ausgelöscht’ bestätigt wird. Der Krieg selbst kann durch seine zerstörerischen Auswirkungen in diesem Zusammenhang als ‚Täter’ definiert werden. Der Gesamtton des Textes, aus der Perspektive der Opfer geschrieben, ist daher trotz seiner optimistischen patriotischen Einfügungen, der von Angst und dunkler Vorahnung.

Schlussfolgerung

Während das Lied Holde Nacht das Erlebnis des Krieges von denen die direkt als auch von denen die indirekt von seinen Auswirkungen betroffen sind widerspiegelt und den Gefühlen von Angst, Schmerz und Verlust Ausdruck verleiht, enthält es auch die für diese Zeit charakteristischen patriotischen Elemente. Diese patriotischen Zeilen stehen jedoch im Kontrast zum Gesamtton des Liedtextes und wirken eher obligatorisch als persönlich motiviert. Hier wird deutlich, dass die patriotische Perspektive eine von außen aufgezwungene Sicht und nicht eine durch eigene Erfahrung entstandene Sehensweise war. Interessant ist auch die Geschichte des Liedes. Der deutsche Linguist und Volkskundler Wolfgang Steinitz nimmt an, das das Lied Holde Nacht, dessen Verfasser unbekannt ist, von einem preußischen Landwehrmann geschrieben wurde und aus den Kriegsjahren 1813-15 stammt. Es machte, laut Steinitz, auf die Soldaten einen so tiefen Eindruck und stimmte sie so wehmütig, dass es in einigen der Truppen verboten wurde. Das Lied Holde Nacht wurde durch Pamphlete schon früh weit verbreitet (Steinitz, 1979). Ein Zeitgenosse berichtet:

„Hörte ich 1813 von den Soldaten und später vom jungen Volk oft singen; immer hatte das Lied auf mich, den Knaben, eine ergreifende Wirkung. Wie bei mir, so bei andern.”            

Kantor Jacob aus Konradsdorf bei Haynau, Schlesien, 1840

Die wichtig Rolle, die zwischenmenschliche Beziehungen spielen, wie in Kapitel 1 erörtert, wird in dem Lied ‚Holde Nacht..‘ deutlich. Es war die Erwartung des Verlustes dieser Beziehungen, die die Soldaten vor der Schlacht so tief berührt hat, so dass sie nicht nur an sich und ihren eigenen nahen Tod dachten, sondern an all die, die davon betroffen sein würden. Auch die patriotische Propaganda machte sich die Bedeutung emotionaler zwischenmenschlicher Beziehungen zunutze und verwendete Begriffe, die einen engen Bezug suggerierten (Vaterland, Kriegsbrüderschaft usw…) um die Soldaten für den Kampf zu motivieren. Schon für die Französische Revolution mit ihrem Ruf nach Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit war die Idee der sozialen Gemeinschaft grundlegend gewesen. Jedoch wurde der Ruf nach Gleichheit dazu benutzt, eine allgemeine Wehrpflicht einzuführen, was dazu führte, dass die revolutionären Armeen so groß wurden, das imperialistische Ambitionen durch sie verwirklicht werden konnten. So wurde das Verlangen nach Gleichheit, das das Konzept der Ungleichheit auf dem der Imperialismus aufbaute, in Frage stellte, in sein Gegenteil gekehrt und das Bedürfnis nach sozialem Zusammenhalt (Brüderlichkeit) ausgenutzt, um die Bevölkerung für imperialistische Kriegszüge zu gewinnen.

Die preußischen Befreiungskriege waren eine Reaktion auf die imperialistische Invasion Napoleons und ein ähnlicher patriotisch nationalistischer Diskurs wurde notwendig, um die Bevölkerung der deutschen Fürstentümer von der Notwendigkeit einer allgemeinen Wehrpflicht zu überzeugen und für die Befreiungskriege zu mobilisieren. Hageman beschreibt, wie die Idee des Nationalismus, die von der deutschen Mittelschicht zu dieser Zeit gefördert wurde, auf Konzepten beruhte, die sich seit der Mitte des 18. Jahrhunderts entwickelt hatten. Hageman versteht das Konzept der Nation als eine kulturelle Konstruktion, deren deutsche Version von den Männern des Bildungsbürgertums erschaffen wurde. Der patriotische nationale Diskurs, die Formen der Repräsentation der Nation sowie die Praxis der nationalen Bewegung waren daher geprägt von ihre Ängsten, Wünschen, Bedürfnissen, Hoffnungen und Visionen. Hageman hebt in diesen Zusammenhang hervor, dass diese Männer mehr als jede andere gesellschaftliche Gruppe von den wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Veränderungen die Krieg und Revolution verursacht hatten, betroffen waren und eine geistige Desorientierung und soziokulturelle Unsicherheit erlebten, die sich auch auf ihr männliches Selbstverständnis bezog (Hagemann, 1997).

Das es einen Bezug zwischen einer problematischen Geschlechterrollenidentität und Gewalt gibt wurde bereits in Kapitel 1 erwähnt, mit Verweis auf das von Scheff entworfenen Konzept der ‚Hypergender‘. Die durch die deutschen patriotischen Schriften geförderte Charakterisierung des deutschen Mannes als tapfer und wehrhaft und der deutschen Frau als häuslich und religiös kommt dem nahe, was Scheff als hypermaskuline und hyperfeminine Typen bezeichnet. Diese Typen entstehen, laut Scheff, wenn Erlebnisse von entweder Scham, Verlust oder Erniedrigung, nicht verarbeitet werden. Das Gefühl von sozialem Bezugsverlust, das durch diese Erlebnisse auf der persönlichen Ebene entsteht, ist zu vergleichen mit dem Gefühl des gesellschaftlichen Bezugsverlustes, den die Männer des deutschen Bildungsbürgertums seit Ende des 18. Jahrhunderts erlebten. Hagemann verweist darauf, dass die nationalen Mythen, Symbole und Rituale, sowie das Ideal der männlichen Wehrhaftigkeit, dass damals geschaffen wurden, um die Bevölkerung für die Befreiungskriege zu mobilisieren, bis heute relevant geblieben sind (Hagemann, 1997).

Zitate von Zeitgenossen bestätigen, dass die französischen Kriege, Belagerungen und der Zerfall des Reiches von vielen als Erniedrigung erlebt wurden. Der Geograph August Zeune bemerkte 1808 verbittert das die Deutschen „wie Tiere behandelt, ausgetauscht, verschenkt, abgetreten (und) niedergetrampelt (wurden)… wie ein Ball… von einer Hand zur anderen weitergegeben” (Simms, 2014). In einer Broschüre, die 1806 vom Nürnberger Buchhändler Johann Philipp Palm veröffentlicht wurde mit dem Titel Deutschland in seiner tiefsten Demütigung heißt es

.. „Ohne Rührung kann freilich ein Deutscher die Erniedrigung seines Vaterlandes nicht einmal ansehen, viel weniger persönlich empfinden und öffentlich davon reden.”

unbekannt, 1877

Scheff betont, dass es insbesonders Erlebnisse von Scham und Erniedrigung sind, die, wenn sie nicht anerkannt und dadurch verarbeitet werden, das Potential haben zu gewalttätigen Handlungen zu führen. Das eine Anerkennung des Erlebnisses der Erniedrigung, zu dieser Zeit nicht möglich war, wurde dadurch deutlich, dass Philipp Palm wegen der Veröffentlichung der Broschüre Deutschland in seiner tiefsten Demütigung noch im selben Jahr von Napoleon zum Tod verurteilt und hingerichtet wurde.

Die Hinrichtung Johann Philipp Palms

Bibliographie

Anderson, B. (1983). Imagined Communities: Reflections On the Origin and Spread of Nationalism. London: Verso.

Genette, G. (1980). Narrative Discourse: an Essay in Method. New York: Cornell UP.

Hagemann, K. (1997). Of “Manly Valor” and “German Honor”: Nation, War and Masculinity in the Age of the Prussian Uprising against Napoleon. Central Europeen History, 30(20), 187-220.

Hagemann, K. (2006). Occupation, Mobilization, and Politics: The Anti-Napoleonic Wars in Prussian experience. Central European History, 39(4), 580-610.

Hobsbawm, E. (1983). The Invention of Tradition. Cambridge: Cambridge UP.

Lenman, R. (1997). Artists and Society in Germany 1850-1914. Manchester: Manchester UP.

Longnon, J. (2001). Mémoires de Louis XIV. Jean Longnon, Tallandier, Paris 2001. Paris: Tallandier.

Reinhardt, K. F. (1950). Germany: 2000 Years. California: The Bruce Publishing Company.

Simms, B. (1998). The struggle for Mastery in Germany 1779-1850. London: Macmillian Press.

Abbildungen

Watercolour by Denis Dighton, 1815

https://collection.nam.ac.uk/detail.php?acc=1975-05-7-1

Mezzotint by Jazet after Steuben, published by Jazet and Theodore, Vibert, Bance and Schroth, 1870 (c)

https://collection.nam.ac.uk/detail.php?acc=1971-02-33-437-1

Bildtapete Olympische Feste im Herrenhaus Rüdigsdorf (Sachsen) von 1824

https://www.monumente-online.de/de/ausgaben/2007/2/liebestolle-goettinnen-blumen-und-girlanden.php

https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Bronzestandbild_-_panoramio.jpg

https://www.versobooks.com/en-gb/blogs/news/4011-imagined-communities-an-introduction

https://deutsche-schutzgebiete.de/wordpress/befreiungskriege-1813-1815/

https://de.m.wikipedia.org/wiki/Datei:Hinrichtung_Johann_Philipp_Palms.jpg