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Die Ausgangsperspektive
Man stößt, wenn man sich mit der menschlichen Natur auseinandersetzt, auf zwei gegensätzliche Sichtweisen: die eine, die Gewalt als einen natürlichen Teil des menschlichen Wesens begreift, den man mit unterschiedlichen Maßnahmen in Grenzen halten kann – und die andere, die davon ausgeht, dass Menschen von Natur aus friedfertig sind und dass Gewalt, wenn sie vorkommt, eine Ursache hat, einen Grund, den man erkennen und somit auch beheben kann. Obwohl die zuerst beschriebene Sichtweise, die den Menschen als von Grund auf gewalttätig einschätzt, besonders im akademischen Umfeld weit verbreitet ist und auch von den Medien bevorzugt propagiert wird, gibt es überzeugende Argumente für eine Sichtweise, die den Menschen als im Grunde friedfertig begreift.
Der Psychologe und Begründer der personenzentrierten Psychotherapie Carl Rogers stützt sich auf seine langjährige Berufserfahrung, die ihm ein Verständnis des menschlichen Wesens vermittelt hat, das er als im Grunde selbsterhaltend und sozial begreift. Seiner Meinung nach ist die Perspektive, die den Menschen als destruktiv sieht, stark von unserer abendländischen Religion und der Idee der Erbsünde beeinflusst. Laut Rogers haben auch Freud und seine Anhänger zu dieser Perspektive beigetragen, indem sie davon ausgingen, dass die unbewusste Natur des Menschen aus Instinkten bestehen, die unkontrolliert zu Verbrechen wie Inzest und Mord führen würden und dass daher die Funktion von Therapie darin bestehe, diese ungezähmten Kräfte in Schach zu halten (Rogers, 1961).
Douglas P. Fry, Anthropologe und führende Autorität für Aggression und Konfliktlösung stützt sich auf Funde aus der Kulturanthropologie, Archäologie und der menschlichen Paläontologie, der Verhaltensökologie und der Evolutionsbiologie, sowie auf jüngste Feldforschungen an Jäger-Sammler-Gruppen aus der ganzen Welt, um einen möglichst vollständigen und integrierten Blick auf die menschliche Fähigkeit zu Gewalt und Frieden zu erhalten. Aus einer makroskopischen anthropologischen Sichtweise heraus stellt Fry fest, dass Menschen für 99% ihrer Entstehungsgeschichte, weit über eine Million Jahre lang, in nomadischen egalitären Jäger- und Sammlergruppen lebten, in denen Kriegsführung eine Seltenheit war. Außerdem findet er viele Studien, die sich auf die außerordentliche menschliche Fähigkeit beziehen, Konflikte gewaltfrei zu lösen. Fry verweist auf die lange Tradition der Perspektive, die Krieg als wesentlichen Bestandteil der menschlichen Natur versteht, und erwähnt in diesem Zusammenhang Thomas Hobbes, der in seinen 1651 veröffentlichten Philosophien über den natürlichen Kriegszustand schreibt. Fry erwähnt auch den bekannten Psychologen William James (1842-1910), der von der kriegerischen Natur der Menschen überzeugt war, und Sigmund Freud (1856-1939), der die Idee des Todestriebes entwickelte, um Formen menschlicher Destruktivität zu erklären. Laut Fry entspringt diese Perspektive jedoch den Erfahrungen unserer gegenwärtigen sozialen und politischen Welt und ist so populär, weil sie vertraut und daher leicht zu akzeptieren ist. Fry weist darauf hin, dass die Behauptungen einiger Evolutionspsychologen, dass sich der Krieg durch natürliche Selektion entwickelt habe, durch Feldstudien an nomadischen Jägern und Sammlern widerlegt werden. Fry warnt davor, dass die weit verbreitete Überzeugung, dass Krieg natürlich und akzeptabel ist, die Suche nach Alternativen behindert – und dass damit die Unvermeidlichkeit des Krieges zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung werden könnte (Fry, 2007).
Auch der Arzt und Soziologe Nicholas A. Christakis, der sich mit den genetischen Grundlagen unserer Gesellschaft auseinandersetzt, bestätigt die Sichtweise, dass Menschen eher zu einem friedfertigen Zusammenleben als zu Gewalt neigen. Er benutzt eine evolutions-soziologische Vorgehensweise, um aufzuzeigen, wie sich während der menschlichen Entwicklung durch natürliche Selektion eine Reihe von Verhaltensweisen entwickelt haben, die ein Überleben unter widrigen Lebensumständen ermöglichen. Zu diesen Verhaltensweisen, die jetzt in unseren Genen kodiert sind und die Christakis als ‚Blueprint‘ bezeichnet, gehören Kooperation, Freundschaft und die Fähigkeit des sozialen Lernens. Es sind diese Fähigkeiten, die es dem Menschen ermöglichen, eine flexible Verbundenheit zu entwickeln und damit unter unterschiedlichen Umständen und auf verschiedenartige Problematiken adäquat zu reagieren. Christakis macht deutlich, dass die negative Perspektive, die die Menschen als voneinander getrennt wahrnimmt und auf Gewalt und Zerstörung fokussiert, eine wichtige zugrunde liegende Einheit übersieht: die unserer gemeinsamen Menschlichkeit. Laut Christakis zeigen die evolutionssoziologischen Studien, auf die er verweist, dass alle Menschen dazu ausgelegt sind, eine Gesellschaft zu schaffen, die von Freundschaft, Zusammenarbeit und Lernen geprägt ist (Christakis, 2019) .
Wenn wir zunächst einmal davon ausgehen, dass Menschen eine friedfertige Natur haben, dann wirft sich die Frage auf, welche Art von Ereignis wohl dazu führen kann, dieses ‘natürliche’ Verhalten zu stören und Menschen dazu zu veranlassen, gewalttätig zu handeln. Traumatische Erfahrungen haben das Potential, einen Bruch mit vorherigen Verhaltensweisen auszulösen, sie kommen daher als mögliche Ursache für gewaltvolles Verhalten in Betracht. Um die Möglichkeit einer Verbindung zwischen Trauma und Gewalt zu ergründen, macht es daher Sinn sich mit Trauma und seinen Auswirkungen auseinanderzusetzen. Dies wird daher das Thema der folgenden Blogs sein.
Bibliographie
Christakis, N. A. (2019). Blueprint, The Evolutionary Origins of a Good Society . New York: Little, Brown Spark.
Fry, D. P. (2007). Beyond War. New York: Oxford UP.
Rogers, C. R. (1961). On Becoming a Person. London: Constable & Company.
Abbildungen